In meinem Artikel über die Dokumentation “Gothic” von Mitra Devi habe ich nicht mit Kritik gespart. Zu Recht? Meine Sichtweise auf den Film habe ich nicht geändert, ich war mir aber schon beim Schreiben des Beitrags sicher, dass die Szene in der Schweiz mehr zu bieten hat. Ich bin also ich in meine Kontaktliste getaucht und habe Schweizer gesucht, die mir ihre Sichtweise auf die Doku und die Szene in der Schweiz schildern könnten. Ich wurde fündig und spontan erklärten sich einige dazu bereit, sich meinen Fragen zu stellen. In der Artikelserie “Die Schweiz kann auch anders!” zeige ich einige Menschen, die die dortige Szene vielleicht in ein anderes Licht rücken. In meinem ersten Artikel stellte ich den Fotografen Reikon DeVore aus Solothurn vor. Lumina Obscura aus der Nähe von Zürich ist ebenfalls Fotografin, interessiert für Body Modification und BDSM, ist aktive Umweltschützerin und hat eine große Leidenschaft für die Fotografie.
2012 bin ich über einen Artikel des Schweizer Landboten gestolpert, der von der „Chronistin der Gothic-Szene“ berichtete. Ich interviewte die Chronistin Lumina Obscura und schrieb einen Artikel darüber. Ich habe mich sehr gefreut, als Sie sich bereit erklärte, für Spontis einige Menschen aus ihren Chroniken vorzustellen. Ihre Artikel über Wintermute aus Berlin und Auriel Aduial aus Lauchhammer haben den Blog sehr bereichert. Doch zurück zur Chronistin. Lumina ist bereits in jungen Jahren zur Szene gekommen und hat, wie Sie selber sagt, wissensdurstig und voller Neugier all das erforscht, was Sie bis dahin verpasst hatte. Was Sie neben der Musik entdeckte, hat „letztlich viel dazu beigetragen wer ich heute bin und immer sein werde„. Ich bin mir sicher, dass ihre großartigen Bilder sie ihrem Ziel, mit der Fotografie selbständig zu werden, näher kommen wird. In diesem Artikel und auf ihrer Internetseite und dem dazugehörigen FB-Profil kann man sich einen Einblick in ihre Arbeiten verschaffen.
Du hast die Dokumentation „Gothic“ von Mitra Devi auch gesehen, was denkst du darüber? Kennst du einige der Protagonisten oder die Filmemacherin?
Als ich das erste Mal davon mitbekommen habe, war ich erst etwas traurig, dass man mich nicht auch gefragt hat :-). Aber ich fand es toll und war gespannt auf das Ergebnis. Ich hatte mir schon etwas mehr erhofft, war dann aber auch nicht überrascht. Um ganz ehrlich zu sein, es kümmert mich auch nicht. Sie haben zusammen etwas auf die Beine gestellt, die Doku lief sogar im Kino, das ist zumindest meiner Ansicht nach eine große Leistung. Ja, manche Aussagen ecken an und tragen sicher nicht dazu bei, „Gothic“ der Gesellschaft sympathisch zu machen. Aber ich frage mich, war denn das überhaupt das Ziel? Also mich interessiert das längst nicht mehr. Die Doku zeigt lediglich heutige Gothics in ihrem Alltag. Dass man dabei bewusst und auch ganz gezielt Menschen ausgesucht hat, um zu provozieren, ist gut möglich. Schlussendlich zeigt mir die Doku einfach nur wie die Szene heute ist. Und ja, Dave zum Beispiel („Der Schwarze Sonnenschein mit Irren Blick“ wie ich ihn ab jetzt immer begrüße) ist ein guter Freund und eins meiner beliebten Fotomodels.
Wie würdest du die Gothic-Szene in der Schweiz beschreiben?
Vielseitig Interessiertes, familiäres, gut gelauntes Partyvolk. Man kann nie alle in eine Sparte schmeißen, dafür sind alle zu unterschiedlich und ich kann lange nicht behaupten, alle Sparten zu kennen. Ich liebe meine Freunde, völlig egal als was sie sich bezeichnen würden. Die Kleidungswahl macht sie schließlich nicht zu schlechteren Menschen. Trotzdem schätze ich es immer noch unheimlich, wenn sich jemand der Kultur bewusst ist, oder der Dj Sopor oder ein Di6 stück auflegt. Das ist selten geworden. Aber das macht es dafür besonders schön.
Welche Eigenheiten hat die Schweizer Szene im Gegensatz zu anderen Szenen, wie du sie vielleicht auch auf dem WGT kennengelernt hast? Ticken die Gothics in der Schweiz anders?
Mir persönlich fallen keine bedeutenden Unterschiede auf. Ich gehe aber auch eher selten aus. Auch wenn ich regelmäßig in DE bin, kann ich es nicht definitiv sagen. Bei euch wimmelt es von Eintagsgrufties und unterschiedlichsten Szenegänger jeden Alters, genau wie bei uns. Ich habe aber ehrlicherweise noch nie wirklich auf irgendwelche Unterschiede geachtet.
Du bist auch fotografisch sehr aktiv, mit welchen Bildern würdest du „Gothic“ für Dich beschreiben und wie würdest du „Szene-Fotografie“ definieren?
Ich habe noch nie gezielt „Gothic“ fotografiert. Ich wollte bei meinen Projekten immer eine einzigartige Düstere und bewegende Ästhetik erzielen. Wenn ich allerdings Menschen fotografiere, bei denen ich den Herzschlag eines Gothic vernehme, dann Knipse ich wie ich es sowieso am liebsten tue. Nichts gestellt, einfach nur genau den Moment, der mich genau dann berührt. Da könnte man jetzt vielleicht am ehesten sagen, dass es sich für mich um Szenefotografie handelt. Das sind dann allerdings traurigerweise meist ausgerechnet die Bilder, die ich niemals veröffentlichen darf, weil dies sehr intime Momente darstellen. Trotz – oder gerade wegen – ihrer einmaligen Schönheit. Mit literweise Blut und nackten Frauen zu jonglieren hat für mich wenig mit Gothic zu tun. Aber so wird es heute nun mal von den Mainstream-Szene-Bands vermittelt. Wem es gefällt, der soll es so machen. Es sagt mir einfach nichts.
Was ist für Dich „Gothic“? Für die Filmemacherin Mitra Devi sind das ja offensichtlich morbide oder auch abseitigen Leidenschaften, wie siehst du das?
Gothic bedeutet auch seine Gefühlswelt in welcher Form auch immer nach außen zu tragen. Sprich Schreiben, Tanzen, fotografieren, Musik, Gestalten – Sich selbst oder etwas völlig neues. Gothic ist und bleibt eine Lebenseinstellung, das nach Außen tragen der Seele. Nicht weil es nur gefällt, schwarz zu tragen, vor allem weil eine andere Option schlicht nicht existiert.
Die Schweizer kommen in der Doku nicht so gut weg, einige Fragen sich offensichtlich, wie sich Leute mit so vielen Piercings denn morgens waschen oder im Leben klarkommen. Stimmt das Bild das dort gezeichnet wird?
Also eigentlich waschen sich gepiercte Leute ganz einfach, mit viel Zeit, Tonnen von Papiertüchern und Wattestäbchen. Ich verstehe die Einblendung in der Dokumentation und die dort gezeigten Vorurteile gegen gepiercte Leute nicht. Geht es darum, dass wir keine Jobs finden? Also ich hätte drei auf einmal haben können als ich mich beworben habe.
In der Doku kommt eine Domina zu Wort, die man bei ihrer Arbeit beobachten kann. Ist BDSM für Dich ein Teil der Gothic Szene?
Man könnte sagen, es ist zu einem Teil in die Szene eingeflossen, aber es ist nicht das, womit ich Gothic beschreiben würde. Für viele ist es eine Inspiration, Leidenschaft, Fetisch oder Bestandteil des Lebens. Ich heiße es nicht gut, wenn man auf einem WGT wo auch Kinder anwesend sind, völlig entblößt und mit Gummistiefel rumrennt, damit bloß alle sehen können, dass man sich gerne den Arsch versohlen lässt. Das ist einfach nur verantwortungslos. Rein ästhetisch und als Teil der Szene haben ja bereits Personen wie Siouxsie Sioux das eine oder andere Kleidungsteil in Latex in ihre Inszenierung eingebracht. Ist Anna-Varney jetzt „untrue“ weil sie darüber singt wie sie ihre Pisse trinkt? Ich glaube nicht das in der alten Schrift „How to be a Goth“ steht du sollst keinen Fetisch haben. Mitra Devi wollte gegenüber einem „Normalbürger“ vielmehr zeigen, dass einige von uns auch Fetische und Neigungen haben. Aber leider ist die Befragung der Domina wirklich völlig übers Ziel geschossen. BDSM kann für manche durchaus ein Hauptbestandteil von Gothic sein, viele aus der Szene praktizieren es einfach nur oder lassen sich davon Inspirieren.
Du bist sehr viel in der BM-Szene (Bodymodification) unterwegs und beschäftigst Dich mit Tattoos und Piercings. Würdest du sagen, dass das ein Teil von „Gothic“ ist?
Vielleicht. Es gibt sicher einige, die eine Vorliebe für Body Modification haben. Die extremere Art der Körperkunst ist für mich persönlich ein Hauptmittel für den Ausdruck meiner Gefühlswelt. Hier kommen auch Spiritualität, Abwehr und düstere Schönheit zum Ausdruck. So der Plan.
Für alle, die die Schweiz mal besuchen möchten. Wo sollte man hingehen, wo trifft man interessante Leute und welche Plätze sollte man unbedingt sehen?
Definitiv das Seelenmassaker im Dynamo Zürich, wenn man gerne ein paar Jährchen in die „Schwarze“ Zeit zurückversetzt werden möchte. Mein Geheimtipp für Leute die den Tod vergöttern oder einfach auf morbides Zeugs stehen, ist das Beinhaus in Leuk eine wahrlich interessante Erfahrung. Aber es ist, soweit ich weiß, das einzige Beinhaus in der Schweiz das nicht abgeriegelt ist, also bitte, würdigt dies und habt Respekt.
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