Das ist es also: Am 1. November ist „Songs Of A Lost World“ erschienen. Das neue Studioalbum von The Cure. Ein Großereignis – nicht nur für die schwarze Szene. Fast alle Medien berichten über die Veröffentlichung. „Das Album ist so düster und gut geworden, wie es sich viele Fans erhofft haben dürften„, urteilt beispielsweise die Rheinische Post. Stimmt das wirklich?
In einer mit Robert-Smith-Bildern dekorierten Wohnung im szenigen Belgischen Viertel Kölns werden die neuen Songs von The Cure besonders genau unter die Lupe genommen. Hier wohnt Alex, der seit vielen Jahren The Cure-Fan ist. Wobei das natürlich eine totale Untertreibung ist. Denn wer von einem regelrechten Kult spricht, dem er da verfallen ist, hat offenbar eine besonders enge Beziehung zu der Band um Robert Smith.
Am Tag der Album-Veröffentlichung haben wir es natürlich nicht gewagt, Alex zu stören. Etwas später, als sich die Aufregung um das neue Werk gelegt hatte, hat unser Autor Franky Future dann für ein Spontis-Interview vorsichtig beim Hardcore-Fan angeklopft. Und der lässt tief in sein Fan-Herz blicken.
Franky: Alex, was muss ich mir unter einem Cure-Ultra überhaupt vorstellen? Schläfst Du in Robert-Smith-Bettwäsche und schlägst Dich am Wochenende mit Depeche-Mode-Fans?
Alex: Also hier muss ich besänftigen, ich achte das Werk von Depeche Mode wirklich sehr und bin auch mit einigen ihrer Songs in Liebe verfallen. Ich denke, zwischen Depeche Mode und The Cure gibt es einige Parallelen. Sie haben zu einer ähnlichen Zeit die USA erobert, und in der DDR gaben sie Jugendlichen eine Nische und Perspektive. Beide Bands haben eine sehr treu ergebene Fanbase weltweit. Beide Bands singen über Dinge, mit denen Menschen auf der ganzen Welt connecten können. Beide haben einen eigenen modischen Stil kreiert, der viele Menschen inspiriert hat. Für viele bieten sie bis heute eine musikalische Alternative – oftmals in D-Moll. Beide Bands sind Aushängeschilder der Szene, viele kamen durch sie erst mit der Wave-Gothic-Szene in Berührung. Beide Bands leuchten und inspirieren immer noch generationsübergreifend. Beide Bands mögen sich übrigens gegenseitig sehr.
Was macht dann den entscheidenden Unterschied aus?
In meiner alternativ-musikalischen Früherziehung spielten The Cure einfach die größte Rolle. Zuerst kommen The Cure und dann kommt erst einmal lange nichts. Es war oder ist ein leichtes, sich als Fan dieser Bands identifizieren zu lassen. Der Cure-Look sprach zu mir und sagte immer: „Es ist okay anders zu sein“ und „Kultiviere Dein Outsidertum!“ Und ja, das habe ich dann auch so gemacht. The Cure sind der Soundtrack meines Lebens.
Als Cure-Ultra würde ich mich trotzdem nicht bezeichnen; der Begriff ist mir etwas zu Fußball-assoziiert. Ich würde sagen, dass ich vielleicht einem Kult verfallen bin. Früher habe ich den Raum verlassen, wenn jemand etwas Negatives über meine Band gesagt hat. Das ist zum Glück heute nicht mehr so. Ich bin in der Hinsicht etwas verträglicher geworden. Dennoch: in dieser Musik fühle ich mich zu Hause: Es gibt einen Song von The Cure für jede Stimmung in mir. Und ja, ich habe ein The Cure-Sofakissen, mehrere The Cure-Kaffeetassen und einen Robert-Smith-Badvorleger.
Was macht für Dich die Faszination dieser Band aus?
1990 spielte mir die beste Freundin meiner Schwester „Charlotte Sometimes“ vom Live-Album „Concert“ vor. Als Zwölfjähriger dachte ich zum ersten Mal in meinem Leben, es würde etwas wirklich nur zu mir singen. Ich war schon zuvor immer ein musikaffines Kind gewesen, doch es gab zwischen meinen ersten Helden Duran Duran und mir eine Diskrepanz: Sie brachten mich zwar zum Tanzen und Träumen, aber die Musik sprach nicht direkt aus mir. The Cure waren anders, diese Musik schien nur für mich konzipiert zu sein.
Im Rückblick denke ich, wurde ich mit The Cure erwachsen. Ich verließ den Schoß der Kindheit. The Cure waren der Anfang meiner Identitätsfindung. Ich machte mich mit und durch sie auf den Weg, zu erfahren, wer ich eigentlich war und sein wollte.
Welche Rolle hat dabei der Frontman der Band, Robert Smith, gespielt?
Robert Smith stand und steht durch seine Optik für keine kulturell konstruierten Vorstellungen und Gender-Stereotypen. Das war mir damals so nicht bewusst, zog mich aber sehr an. The Cure eröffneten durch ihr Image und ihre Musik für mich einen Heimathafen, einen Safe Space, in dem ich mich endlich ausleben konnte, inspiriert wurde und Orientierung fand im Prozess des Erwachsenwerdens. Die meisten männlich gelesenen Personen, die in der Öffentlichkeit standen, waren als Vorbilder ungeeignet. Robert Smith verkörperte da etwas anderes: weg vom harten Typen, hin zu jemandem, der mit Androgynität spielt und Mode und Mainstream verachtet. Für mich war das als ein junger queerer Mann 1989/1990 eine Ausnahmeerscheinung und Offenbarung.
Spielte dabei nur die typische Robert-Smith-Optik eine Rolle?
Nein. Insgesamt bin ich bis heute froh, dass Robert Smith so ein guter Typ zu sein scheint. Seien es seine politischen Äußerungen in unterschiedlichen Interviews oder der Spruch auf seiner Gitarre: „CITIZENS NOT SUBJECTS“. Smith hatte ebenfalls einen Aufkleber von der (englischen) Antifa auf seiner Gitarre. Robert Smith hat sich auch gegen dynamische Ticketgestaltung von Ticketmaster auf der letzten Amerika-Tour aufgelehnt und dieses kapitalistische System beeinflussen können. Auf Cure-Konzerten gibt es übrigens immer Merchandise, den sich jeder leisten kann. Hier gibt es für mich eine Nuancierung zu Depeche Mode.
Wie viele The-Cure-Konzerte hast Du bisher besucht und welches ist Dir besonders in Erinnerung geblieben?
Ich habe The Cure (leider) erst 48 Mal gesehen. Zu meinen liebsten Erinnerungen gehört mein allererstes Konzert 1992 in Düsseldorf während der Wish-Tour. Weitere besondere Erinnerungen sind alle Konzerte von 2022, insbesondere Basel, Köln, Berlin, München und London mit der besten Reisegruppe! Das schönste Erlebnis war das letzte Konzert in Köln, das ich mit vielen Freunden und Teilen meiner Familie erleben durfte. Unvergessen! Robert Smith und Band geben Konzerte mit knapp 45 Songs. Manchmal spielen sie ganze Alben. Live ist also immer viel zu erwarten.
Welches ist Dein Lieblingsalbum von The Cure und warum?
Oh, das ist wirklich eine komplexe Frage, aber ich denke, dass mich die Disintegration, Faith, Wish, Pornography sehr, sehr begeistern. Grundsätzlich liebe ich auch Live-Alben und Bootlegs. Die „Entreat -Live in Wembley 89“ und die „Paris – Live in Paris 92“ kann ich immer hören. Die Live-Bootlegs von der Bloodflower-Promo-Tour im Jahre 2000 finde ich auch immer sensationell, dieser Sound haut mich um.
Kommen wir zum aktuellen Werk. Dein erster Eindruck?
Ich bin wirklich mehr als zufrieden. Um ehrlich zu sein, bin ich richtig glücklich mit dem Album. Ich kannte ja schon einige der Songs als Live-Versionen, da The Cure einige der Stücke schon auf der letzten Tour gespielt haben. Gespannt war ich also auf die Studio-Aufnahmen, die mich nicht enttäuscht haben. Ich denke, jeder, der die neuen Lieder auf der Tour hörte, war sehr angetan und sofort gefesselt, weil die Songs vom Leben im Hier und Jetzt, vom Tod, dem Verlust eines geliebten Menschen und über den Verlust der Liebe und deren Konsequenzen handeln. Der Satz aus dem neuen Song Alone „And here is to love, so much love“ wirkt bis heute auf mich wie eine Ode an das Leben und die Liebe!
Welche Emotionen ruft das neue Album bei Dir hervor?
Es geht in den neuen Songs nicht um eine distanzierte jugendliche Melancholie, sondern die Songs lassen mich spüren, dass ich in einer sehr persönlichen Art diese Lieder selber singen würde. Das ist hier mehr als Metapher zu verstehen: Niemand möchte, dass ich zu ihm singe, aber ich sehe hier Parallelen zu meinen ersten The Cure-Hörerfahrungen als Heranwachsender. Das Hörerlebnis ist mal wieder sehr intim und nah. Besonders an allen The Cure-Veröffentlichungen ist, dass ich eigentlich zu jedem neuen Album im Rückblick genau sagen kann, wie ich mich zur Veröffentlichung gefühlt habe. Zum jetzigen Zeitpunkt, 16 Jahre nach der letzten Veröffentlichung, ist es das Rad der Zeit, das mich beschäftigt. Ich blicke mehr zurück, die eigene Vergänglichkeit wird konkreter. The Cure als Teil meines Memorials, im Rückblick, aber auch im Ausblick. Grundsätzlich, denke ich, ist das eines von Robert Smiths’ besten Attributen: in jedem Moment unseres Daseins, so nah wie möglich an unser Inneres heranzukommen.
Welcher Song auf dem neuen Album hat das Potenzial ein The Cure-Evergreen zu werden?
Das Potenzial haben meiner Meinung nach gleich mehrere Songs: Alone, And Nothing is Forever, All I Ever Am und Endsong.
Wie gefällt Dir das Artwork für „Songs of a lost World“?
Robert Smith hat eine Skulptur des slowenischen Künstlers Janez Pirnat aus dem Jahr 1975 ausgewählt, um das Cover zu illustrieren. Das Albumcover wurde dann von Andy Vella entworfen. Andy Vella kennt Robert Smith und The Cure seit 1981. Er hat den Großteil des Artworks für die Plattenveröffentlichungen von The Cure entworfen, entweder als eine Hälfte von Parched Art oder als Solokünstler. Er hat die Band außerdem in ihren verschiedenen Inkarnationen fotografiert.
Ich finde das Cover sehr gelungen. Es funktioniert als ein Gesamtes. Dieses Weltall-Asteroiden-Ding hat mich immer schon in den Bann gezogen. Das Layout gekoppelt an diese neuen monumentalen Songs ist eine perfekte Symbiose.
Welche Schulnote gibt der „Cure Ultra“ dem neuen Album?
Ich mach’s kurz: eine 2 mit Sternchen.