Weniger Besucher, mehr Nebenschauplätze – Das WGT am Wendepunkt?

Anfang Juni ist das 29. Wave-Gotik-Treffen zuende gegangen, das nach 2 Jahren Corona bedingter Pause wieder an alte Erfolge anknüpfen sollte. Doch vieles war in diesem Jahr anders als sonst, darin sind sich viele Besucher des Treffens einig. Nicht nur ein Besucherrückgang um etwa 6000 Gäste, sondern auch leere Shopping-Hallen und fehlende Verkaufsstände. Wie kann es mit dem größten Festival der schwarzen Szene weitergehen?

Besucherrückgang

Es waren deutlich weniger Besucher beim Treffen, das berichtet jedenfalls die LVZ (Paywall) und spricht von 15.000 Besucher, rund 6000 weniger als noch 2019. Der Veranstalter macht dafür die Corona-Pandemie und die daraus resultierende Planungsunsicherheit verantwortlich. Erst im April konnte mit dem regulären Kartenvorverkauf begonnen werden, denn bis zuletzt war unklar, ob man das AGRA-Gelände nutzen könne, da die Stadt Leipzig auf dem Gelände ukrainische Flüchtlinge unterbringen wollte.

Allerdings waren auch die Planungen der Gäste bereits im Vorfeld gehemmt, denn die Corona-Pandemie sorgte in der klassischen Vorbereitungsphase für große Unsicherheiten hinsichtlich Anreise und Unterbringung. Unklar war bis zuletzt auch, wie Großevents überhaupt stattfinden können. Erst im März 2022 war offiziell, dass viele Regeln wegfallen würden und ein WGT uneingeschränkt stattfinden konnte.

Die Kurzfristigkeit in der Planung, ein gleichzeitig stattfindendes Stadtfest und allgemein gestiegenen Preise trieben auch die Preise für Unterkünfte in die Höhe, was das Treffen auch für einige Besucher schlicht zu teuer gemacht hat. Dass das WGT den Ticketpreis ebenfalls kurzfristig erhöhte, war nur die Kirsche auf einem viel zu teuren Kuchen.

Und natürlich war dann auch noch einer immer noch akute Pandemie, die einige Menschen abgehalten hat, sich in Massenveranstaltungen zu tummeln. Zu Recht, wie sich herauszustellen scheint, denn viele Besucher des WGTs oder der vielen Rahmenveranstaltung hat es „erwischt“, wenn man dem subjektiven Gefühl, das unzählige positive Corona-Tests, die in den sozialen Medien gepostet werden, glauben schenken darf. Die 2-jährige Corona-Pandemie hatte allerdings auch noch andere Auswirkungen.

Folgen der Covid-19 Pandemie

Auch das Wave-Gotik-Treffen selbst hat sich verändert. Spürbar weniger Shopping-Stände in den Messehallen und dem Außenbereich und wieder weniger Veranstaltungsorte, die bespielt wurden, sind vielen Besuchern aufgefallen.

Die Corona-Pandemie hat die Veranstaltungsbranche völlig auf den Kopf gestellt, in allen Bereichen fehlt es an Personal. Erst jüngst musste ein ganzes Festival, zu dem rund 11.000 Besucher strömen sollten, abgesagt werden. Wie der Bayerische Rundfunk berichtet, schätzt man in der Branche, dass zwischen 30 und 40 % Personal schlichtweg fehlen.

Vor allem die dünne Personaldecke macht vielen Veranstaltern Sorgen. Nach zwei Jahren Pandemie, in denen so viel ausgefallen und verschoben wurde, in denen der ganze Kulturbetrieb teilweise still stand, läuft vieles nicht mehr so reibungslos wie noch 2019. Viele Leute, die Bühnen aufgebaut haben, die bei Konzerten Getränke ausgeschenkt oder eben auch für die Sicherheit des Publikums gesorgt haben, mussten sich in den letzten beiden Jahren neue Jobs suchen. Das erzählen die meisten Konzertveranstalter.

Eine Studie der UNESCO stellt darüber hinaus fest, dass es Millionen von Künstlern und Kreative ihren Job verloren haben, der deutsche Kultursektor ist um rund 23 Prozent kleiner geworden. In Mittel- und Südamerika sogar um rund 80 Prozent. Das hat sich auch auf dem WGT bemerkbar gemacht und wird wahrscheinlich noch eine ganze Weile spürbar sein, denn von einem plötzlichen Ende der Pandemie kann keine Rede sein.

Ein Blick in Glaskugel

Wie könnte das 30. Wave-Gotik-Treffen aussehen? Die weltweiten Krisen werden sich nachhaltig auswirken. Allein der Krieg in der Ukraine macht das Leben teurer, und den freien Taler für Kunst- und Kultur noch knapper. Die Corona-Pandemie ist noch lange nicht vorbei und wirkt sich mit Lieferschwierigkeiten, Unsicherheit und Neuorientierung der Arbeitskräfte nicht nur auf die Gesundheit aus. Warum sollten zum Beispiel Menschen, die durch die Pandemie gezwungen waren, sich neue Jobs zu suchen, weil dir Kultur- und Konzertlandschaft brach lag, ihren neuen Arbeitsplatz aufgeben?

Trotz der pessimistischen Aussichten, wird auch 2023 ein WGT stattfinden können, sofern der Virus keine Rache schwört und Putin nicht weiter mutiert. Selbst wenn es ganz dicke kommt, und die Veranstalter sich entschließen, nicht mehr weiterzumachen, bleibt Leipzig zu Pfingsten schwarz. Das sagt mir meine Glaskugel.

Leipzig hat im Laufe der letzten Jahre ein pulsierenden Kern schwarzer Szene angesammelt, der nicht allein auf Konsum ausgerichtet ist, sondern auf „Selbermachen“  Als beispielsweise Christian von Aster und Lydia Benecke keine Einladung vom WGT erhielten, haben sie kurzerhand ihr eigenes WTF?!-Festival ins Rennen geschickt, das reichlich intellektuell-unterhaltenden Content bot. Das Gothic-Pogo-Festival bietet schon seit Jahren nicht nur einem aktiven Kern tanzbare Unterhaltung, sondern auch zahlreichen aufstrebenden Nachwuchs-Bands eine Bühne. Eine neu ins Leben gerufenen dunkelromantische Nacht umgarnte die Besucher mit wärmeren Klänge. Christian von Aster schrieb auf Facebook dazu:

…die überwältigende Annahme des alternativen Kulturangebots lässt erahnen, was die kommenden Jahre noch an finsteren Wundern in dieser Stadt erblühen wird. Ich bin dankbar, Teil dieser Dinge sein zu dürfen.

Sollte sich also parallel zum WGT eine Reihe weiterer Veranstaltungen etablieren? Wird das Treffen möglicherweise überflüssig und ist verzichtbar?

Das Wave-Gotik-Treffen hat es in 30 Jahren zur globaler Bekanntheit gebracht. Die Sogwirkung des WGTs für den erwähnten kreativen Kern der Szene, für Besucher, Bands und Künstler aus aller Welt ist nicht zu unterschätzen. Auch wenn Leipzig ohne WGT „schwarz“ bleiben würde, bliebe einiges von der Diversität und Heterogenität auf der Strecke.

Kommentar: Zeit für Entwicklung!

Das WGT ist Bezugspunkt und Referenzgröße der Gothic-Szene. Auch das über Jahre gereifte Konzept eines dezentralen Festivals mit üppigem Rahmenprogramm und vielen unbekannten Bands ist weltweit einzigartig. Allerdings scheint eine Entwicklung des Wave-Gotik-Treffens unausweichlich, um auch in Zukunft relevant zu bleiben.

Es fehlt mitunter an Feingefühl und Transparenz in der Kommunikation mit Künstlern, Händlern und Besuchern. Christian von Aster, der im Grunde genommen zur festen Größe des WGT zählte, wurde ohne Begründung nicht mehr eingeladen. Besucher, die während der Pandemie-Jahre unsicher waren, wurden bis zuletzt im unklaren gelassen, ob es weitergehen würde und zuletzt stellte sich der Umgang mit der Flüchtlingsthematik als diskussionswürdig dar. Und zuletzt ist ein immer noch geduldeter Stand der rechtsextremen Verlags VAWS in den Agra-Shopping-Hallen schon lange nicht mehr zeitgemäß. Dass diese Dinge immer wieder von vielen Besuchern thematisiert wird, zeigt die Wichtigkeit des Treffens und seinen Stellenwert für die Szene. Die Besucherzahlen werden sich erholen, nicht nur, weil mehr Planungssicherheit da ist, sondern auch, weil die Menschen „ausgehungert“ sind.

Es scheint daher auch Zeit zu werden, neue Veranstaltungsorte zu finden, denn durch den Wegfall einiger wichtiger Locations und Unterschätzung einige Events kam es der Vergangenheit immer wieder zu übervollen Sälen und Hallen, der wiederum bei Frust bei den Besuchern und Künstlern sorgte. Allerdings wird das zur Herausforderung werden, denn Leipzig boomt. Immobilien und Mieten werden immer teurer, das dürfte auch für Veranstaltungsräume gelten. Schade wäre es allerdings, wenn das Rahmenprogramm dünner wird und Lesungen oder Vorträge weiter wegfallen würden.

Wie seht ihr die Zukunft des Wave-Gotik-Treffens und die Entwicklungen der schwarzen Szene? Wird es in Zukunft mehr „Nebenschauplätze“ geben, die Leipzig zu Pfingsten in schwarze Pracht hüllen?

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das H.Gen
das H.Gen(@hagen)
Vor 2 Jahre

Vielleicht ist die ganze Misere der Anstoß zu einer neuen Ära. Nicht mehr größer, höher, weiter, sondern wieder „Back to the Roots“. Selbstgemachte Indiekultur in Hinterhöfen, freie Theatergruppen, Musiker und Künstler wie in den 80ern die nicht vom Mainstream plattgebügelt werden. Ich bin auf die Zukunft gespannt.

Gruftwurm
Gruftwurm (@guest_61346)
Antwort an  das H.Gen
Vor 2 Jahre

Das wäre mal ein Traum!

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Vor 2 Jahre

Hmmm…. fast all die Gründe für die Verkleinerung in 2022, die mir selbst dazu in den Sinn gekommen sind, hast Du ja schon genannt:

  • das „grüne Licht“ für das WGT kam sehr spät = später Kartenvorverkauf
  • kurzfristige Unsicherheiten bzgl. agra-Gelände (überhaupt Ersatz möglich?)
  • generelle Reiseplanungs-Unsicherheit während der Pandemie
  • Sorge vor Ansteckung in der Menge
  • gestiegene Preise an allen Enden
  • das unsägliche Stadtfest zu gleichen Zeit
  • viel Programm auch ohne Bändchen

Daher hat es mich nicht gewundert, dass in diesem Jahr viele gesagt haben, dass es ihnen alles zu unsicher bzw. kurzfristig ist.
Ich hätte nichts dagegen, wenn eine gewisse Gesundschrumpfung stattfändet, denn es ist wirklich arg viel, was parallel stattfindet. Das Programm erschlägt einen völlig. Dazu kommen ja noch das Gothic Pogo Festival und etliche bändchenlose Veranstaltungen.

Was mir auch noch einfällt, was 2022 ein Manko war: viele ausländische Bands konnten (so kurzfristig) gar nicht teilnehmen, weil zu wenig Planungs- und Vorbereitungszeit war, erschwerte bzw. teurere Reise- und Unterkunfstbuchung hinzu kamen. Es haben dieses Jahr vorrangig deutsche Bands gespielt oder welche aus Europa.

Mir wäre auch ein Augenmerk auf z.T. größere bzw. bessere Locations bzw. bessere Klimatisierung und Sitzgelegenheiten wichtig. Ich weiß, dass Leipzig nichts aus dem Hut zaubern kann, aber zumindest ein Nachrüsten in Sachen Belüftung wäre doch sicher fast überall möglich.
Wenigstens wird ja das Rauchverbot in den Spielstätten beachtet, sonst wäre die Luft noch schlimmer.

Letzte Bearbeitung Vor 2 Jahre von Tanzfledermaus
Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Antwort an  Robert
Vor 2 Jahre

Ich wäre bereit – unter der Voraussetzung, dass sich wirklich etwas Bahnbrechendes tut in Sachen Komfort. Denn ein Konzert in einer völlig überhitzten, stickig-feuchten Halle ist wirklich kein Genuss, zumal man sich ja meist nicht nur für eine Band dort aufhält, sondern eher für ein paar Stunden. Dasselbe gilt für schmerzende Füße, die können einem auch vieles verleiden. Mit 20 macht man das einfacher mit als mit fast 50… und das WGT-Publikum besteht ja mittlerweile zu sehr großem Teil aus älteren Leuten.

Vielleicht könnte ja eine Teilbestuhlung vorgenommen werden, und für die Stühle gibt es ein entsprechendes Kontigent an Karten mit Aufschlag, die man als „Premium“-Ticket oder ähnlich wie bei der Obsorgekarte dazu buchen kann. Dann gibt es auch kein Gezänk um die Sitzgelegenheiten, weil dann im Vorfeld klar ist, wer sitzen „darf“.
Und wer nicht mehr zahlen möchte und kein Problem damit hat, lange zu stehen oder viel herumzappeln möchte, kann das normale Ticket ohne aufschlag kaufen, so dass auch wirklich nur diejenigen mehr zahlen, die dazu bereit sind und das Angebot nutzen möchten.

Letzte Bearbeitung Vor 2 Jahre von Tanzfledermaus
Margarine Tyrell
Margarine Tyrell (@guest_61345)
Vor 2 Jahre

Was mich generell bei dem ganzen „Personalmangel auf Festivals“-Gerede wundert: Ich weiss selbst aus eigener, mehrjähriger Erfahrung, dass Arbeiten auf Festivals schon seit Jahren nicht mehr bedeutet, dass man für seine Arbeit auf einem Festival tatsächlich auch mit Geld bezahlt wird. Freier Eintritt zum Festival ist oftmals die einzige Bezahlung. Bessere Festivals bieten noch Essen und Getränke an. Vom Bestreiten eines Lebensunterhalts kann hier also oftmals gar keine Rede sein, und das war auch schon lange vor Covid-19 so. Das Ganze nennt sich „Volunteering“. Ich hatte das hier schon mal in einem anderen Beitrag angesprochen. Das ist ein fragiles System, das nun unter anderem durch die Inflation ordentlich wackelt, denn selbst wenn der Eintritt frei ist, hat man ja gegebenenfalls trotzdem noch Kosten für Anreise, Unterkunft et cetera und muss sich dann halt überlegen, was einem wichtiger ist: Ein Festival, auf dem man arbeitet, damit man sich zumindest die Ticketkosten spart, oder bei ständig steigenden Preisen trotzdem noch einigermaßen angenehm durch den Alltag kommen.

Ich behaupte nicht, dass niemand, der vor der Pandemie auf Festivals gearbeitet hat, mit Geld bezahlt wurde, aber wenn die, die vorher bezahlt wurden, die Branche gewechselt haben, und die, die vorher schon nicht bezahlt wurden jetzt – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr wollen… Das sehe ich in der Tat düster.

Als Besucherin stehe ich gerade vor der Entscheidung, auf ein Festival zu gehen, das in Kürze quasi vor meiner Haustür stattfinden wird. Die einzigen Kosten, die ich hätte, wären das Ticket, und das wäre noch nicht einmal sooo teuer. Was mich hauptsächlich vom Ticketkauf abhält ist Covid-19. Und wie mir erst jetzt bewusst wird: Auch die Angst davor, dass die wenigen Bands, die mich überhaupt interessieren, ihren Auftritt kurzfristig absagen. Das ist in den vergangenen Jahren eben auch häufiger geworden, dass Bands absagen. Teilweise ohne Begründung. Und als Besucher hat man dann nicht das Recht auf Ticketrückerstattung, nur weil die Lieblingsband(s) abgesagt hat / haben. Also kaufen immer mehr Leute ihre Tickets möglichst spät, in der Hoffnung, sich so vor solchen Absagen schützen zu können, während Festivals gerade auf den Vorverkauf angewiesen sind und – sollte dieser zu lange Zeit nicht in die Gänge kommen – das ganze Festival absagen müssen.

Ja, ich weiss, ich klinge nicht gerade optimistisch. ;) Und ich weiss auch, dass ich hier etwas „Off Topic“ bin, da ich sehr allgemein und nicht aufs Wave Gotik Treffen bezogen spreche / schreibe. Ich würde mir auch mehr DIY-Events für die Zukunft wünschen, aber am Ende muss auch das irgendwie finanziert werden, und mein eigener Erfahrungswert ist leider der, dass die Leute dann doch lieber zu Rammstein und nach Wacken rennen, ganz gleich, wie teuer da die Tickets sind. Das Geld dafür wird zusammengespart, indem man eben nicht die kleinen Events besucht. Mögen sie noch so günstig sein. :(

Gruftwurm
Gruftwurm (@guest_61348)
Antwort an  Margarine Tyrell
Vor 2 Jahre

 Also kaufen immer mehr Leute ihre Tickets möglichst spät, in der Hoffnung, sich so vor solchen Absagen schützen zu können, während Festivals gerade auf den Vorverkauf angewiesen sind und – sollte dieser zu lange Zeit nicht in die Gänge kommen – das ganze Festival absagen müssen.

Das höre ich derzeit auch im Freundschaftskreis, das die Leute die Tickets lieber erst später oder halt an der Kasse kaufen. Das ist doch sehr nachvollziehbar.

Und der Gedanken beim Ticketkauf an Covid-19 kann ich sehr gut verstehen. Irgendwie sollte man diesen Virus nicht ganz unterschätzen, auch wenn wir alle wieder eine gewisse Freiheit genießen dürfen. Wie oft bekomme ich zu hören, wie schlecht es einigen mit den Virus geht. Alles recht schwierig noch und doch möchte man einfach mal unter Leuten ein schönes Festival etc. genießen. Ich bin gespannt was uns im Herbst mit der ganzen Pandemie erwartet…

Letzte Bearbeitung Vor 2 Jahre von Gruftwurm
Margarine Tyrell
Margarine Tyrell (@guest_61356)
Antwort an  Robert
Vor 2 Jahre

Absagen aus gesundheitlichen Gründen oder Gründen wie Todesfall sind ja verständlich, aber beispielsweise gar keine Begründung oder irgendetwas Vorgeschobenes… Das ist nicht in Ordnung.

Wie geht es Dir eigentlich, hast du nicht wieder das starke Bedürfnis zur Kultur zurückzukehren? Ich meine eine Covid-19 Erkrankung ist auch ohne Festival fast unvermeidlich geworden, wie stehst du zu der Einstellung „Das war es wert“?

Ich hatte das grosse Glück, direkt vor der Pandemie noch ein Konzert zu sehen, das noch dazu insgesamt ein ziemlich perfekter Konzertabend war. Seitdem war ich auf gar keinem Konzert mehr, bin nicht mehr ins Ausland gereist und nehme dank „Social Distancing“ an 95% von Treffen mit Freunden nicht mehr teil. Und wann immer ich beispielsweise in den Supermarkt gehe, trage ich konsequent Mundschutz. Ich gehöre zwar keiner Risikogruppe an, aber die Gesundheit geht mir nun mal über alles. Um mich herum haben fast alle sich irgendwann angesteckt, was ich aber auch der Tatsache zurechne, dass viele von ihnen eben keinen Mundschutz tragen, keinen Abstand halten, öfters mal „alle Fünfe grade sein“ lassen und sich in überfüllte Pubs setzen… Wie gesagt. Mir selbst geht meine Gesundheit über alles. Da muss alles andere halt warten, so schwer es auch mir mitunter fällt.

Ich muss aber dazu sagen, dass ich schon etwa 7 Jahre vor der Pandemie Veränderungen bezüglich Konzerte und Festivals festgestellt habe, die mir nicht gefallen und zwangsläufig dazu geführt haben, dass ich statt auf bis zu 50 Events im Jahr plötzlich nur noch auf 4 Events pro Jahr unterwegs gewesen bin.

Bei Festivals zum Beispiel spricht mich kaum noch ein Line-Up an, und sind doch mal 2-3 Bands dabei, die mir gefallen, rechtfertigt das immer noch nicht die hohen Ticketpreise. Es sei denn, die 2-3 Bands spielen alle am selben Tag und man kommt mit einem Tagesticket hin. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass Lieblingsbands nicht nur absagen, sondern ihre Spielzeit kurzfristig verschoben wird, weil vielleicht eine andere Band abgesagt hat. Und so eine Verschiebung kann dann auch schon mal bedeuten, dass die Lieblingsband dann plötzlich an einem anderen Tag spielt als ursprünglich geplant, was richtig ärgerlich ist, wenn man nur eine Tageskarte hat. Again: Es gibt kein Recht auf Ticketrückerstattung, nur weil die Lieblingsband abgesagt hat oder ihre Performance verschoben wurde. Bei mehrtägigen Festivals kommen dann mitunter noch Reise- und Unterkunftskosten hinzu. Mit Ticketpreisen im dreistelligen Bereich ist man dann schnell in der Situation, dass man für das gleiche Geld auch einen Kurztrip in eine europäische Großstadt unternehmen könnte. Und da mich von vorneherein kaum noch ein Festival-Line-Up anspricht, ziehe ich dann auch tatsächlich solche Kurztrips vor.

Eine andere Sache, die mir seit einigen Jahren wirklich sauer aufstößt, ist dieser ganze VIP-Ticket-Quatsch. Früher kam man einige Stunden früher zum Konzert, wenn man in der ersten Reihe oder eben möglichst weit vorne stehen wollte. Heute muss man dafür ein teureres „Golden-Circle-Ticket“ kaufen. Früher hat man nach dem Konzert noch draußen auf den Künstler gewartet, um ein Foto und ein Autogramm zu ergattern. Heute muss man dafür ein teureres „Meet’n’Greet“-Ticket kaufen. Oder man zahlt mehr, damit man vor allen anderen Besuchern am Merchandise-Tisch shoppen kann. Oder einen Cocktail serviert bekommt, der den Namen eines Songs der Lieblingsband trägt.

Klar, man selbst muss das alles nicht mitmachen, aber es ist dann so eine Stimmung aus Gier und Verzweiflung in der Luft, dass zumindest ich selbst dann am Ende gleich dem ganzen Event fern bleibe.

Es ist eine Sache, auf Festivals teurere Luxus-Camping-Pakete anzubieten. Das kann man mögen oder nicht mögen, aber es tut keinem weh, wenn einer im Zelt schläft und ein anderer mehr Geld hinblättert, um in irgendeinem Luxus-Zelt zu nächtigen. Es stört einen Camper ja auch nicht, wenn andere Festivalbesucher im Hotel statt auf dem Zeltplatz schlafen. Beim Publikum vor der Bühne sieht die Sache für mich aber ganz anders aus, denn was eine Einheit sein sollte, ist plötzlich eine Art „Klassengesellschaft“. Das wirkt von Veranstalterseite einerseits gierig, weil man eben versucht, an allen möglichen Ecken und Enden noch den letzten Cent herauszupressen. Andererseits wirkt es mitunter aber auch verzweifelt, wenn man eben zu solchen Mitteln greift. Und das Fazit für mich ist dann: Für mich hat das mit „Rock’n’Roll“ und „Abschalten vom Alltagstrott“ nichts mehr zu tun, also kann ich auch gleich zu Hause bleiben. Vermutlich ist diese Entwicklung auch der Grund, warum mir das Reisen ins Ausland mittlerweile weit mehr fehlt als irgendwelche Konzerte und Festivals. :(

Ich könnte noch ewig fortfahren, weil bei diesem Thema so viele verschiedene Faktoren mit reinspielen. Als die Pandemie begann, gab es zum Beispiel von Eventim statt Ticketrückerstattung nur Gutscheine. Das wird auch nicht zur Vertrauensbildung bei Ticketkäufern beigetragen haben. Ich arbeite selbst im Musikbusiness und weiss, wie hart das alles ist, aber leicht ist das alles schon seit etwa 20 Jahren nicht mehr, und bei dem ständigen Gejammere aus dem Musikbusiness fehlt mir immer öfter der Fokus auf den Konsumenten und wie es denen mit diesem oder jenem geht. Was auch teilweise erklären könnte, warum der Nachwuchs ausbleibt.

Margarine Tyrell
Margarine Tyrell (@guest_61383)
Antwort an  Robert
Vor 2 Jahre

Nun, dann ist die Pandemie eine Art Sargnagel an deine geänderten Freizeitgestaltungsbedürfnisse.

Leider ja. :( Konzerte, Festivals, Reisen… Das war und sehe ich weiterhin als meine Welt. Und am Allerliebsten in Kombination. Nur wie gesagt: Etwa 7 Jahre vor der Pandemie ging es los mit diversen Veränderungen, wie eben der wachsenden Unzuverlässigkeit von Bands. Band XY in Stadt A oder Land B sehen und sich bei der Gelegenheit auch noch Stadt A oder Land B angucken: Das habe ich früher – wann immer es ging – zuhauf gemacht, und von diesen wunderbaren Erinnerungen zehre ich heute noch. Dann ging es aber los, dass immer öfter Konzerte kurzfristig abgesagt, verlegt und sogar vorverlegt wurden. So ließ sich dann einfach immer weniger planen. Man kann davon ausgehen, dass Stadt A oder Land B da sind, wenn man ankommt. Selbiges kann man von Konzerten oder Auftritten auf Festivals vor Ort aber schon länger nicht mehr erwarten, und deswegen macht es für mich mittlerweile mehr Sinn, „normale“ Reisen zu planen und zu priorisieren und Konzerte und Festivals immer weiter außen vor zu lassen. Es ist eine Entwicklung, die mir selbst am Allerwenigsten gefällt, aber… Was soll man machen? Es ist, wie es ist. Leider. Und wenn ich dann doch mal nach Tickets schaue, kommt dieser ganze VIP-Ticket-Quatsch. Ich hatte bei meinem letzten Kommentar tatsächlich nur daran gedacht, wie meine Ausgehmotivation sofort wieder verpufft, wenn ich sowas sehe, und nicht an den Kommentar von Tanzfledermaus, auch wenn es inhaltlich in der Tat gepasst hat.

Ich kann sehr gut verstehen, dass es Dich wieder dorthin zieht, „wo die Musik spielt“. Wäre nicht Corona, dann würde ich vermutlich auch das eine Festival vor meiner Haustür besuchen, sofern kurz vorher noch Tickets da wären.

Generell sehe ich die Pandemie als einen Katalysator von Problemen, die vorher schon da waren, und nicht als die Wurzel allen Übels.

Wie schon erwähnt könnte ich ewig fortfahren, weil bei diesem Thema so viele verschiedene Faktoren mit reinspielen. Auch mir ist zum Beispiel das Gefühl der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit wichtig bis sehr wichtig. Von Veranstalterseite wird das durch den ganzen VIP-Ticket-Quatsch untergraben. Aber auch der Teil der Besucher, der quasi non-stop am Smartphone hängt… Hier noch schnell ein Selfie vom Konzert posten, damit alle wissen, was ich mache, und da mal eben gucken, was alle anderen, die nicht auf dem Konzert sind, so machen… Statt einfach im Hier und Jetzt das Konzert zu genießen und sich mit dem zu befassen, was gerade buchstäblich „live“ vor Ort passiert. Eventuell neue Leute kennenlernen, von Angesicht zu Angesicht. Auch das hat sich in den vergangenen Jahren SEHR verändert. Soviel Fake und Gepose. Da postet eine Person dann ein Selfie mit jemand anderem und versucht durch Hashtags zu vermitteln, man hätte die ganze Nacht zusammen gefeiert („#BestPartyEver“) und soviel Spass zusammen gehabt, dabei hat man – wenn überhaupt – nur fünf Minuten miteinander gequatscht, dieses eine Foto geschossen und sich dann wieder voneinander verabschiedet. Zum Glück sind einige Musiker wie Jack White dazu übergegangen, die Smartphone-Nutzung während ihrer Konzerte zu verbieten. Ich denke, das ist ein Schritt in die richtige Richtung (→ Back to the roots).

Letzte Bearbeitung Vor 2 Jahre von Margarine Tyrell
Durante
Durante(@durante)
Antwort an  Margarine Tyrell
Vor 2 Jahre

„Aber auch der Teil der Besucher, der quasi non-stop am Smartphone hängt…“
Damit sprichst du mir aus der Seele.
Bizarre Situation vor der Pandemie: Lebanon Hanover spielen ausgerechnet „Du Scrollst“(!) und die Hälfte des Publikums filmt das durchgehend mit hoch erhobenem Smartphone… Ohne dass ihnen was auffällt. Einfach uglaublich.
( https://genius.com/Lebanon-hanover-du-scrollst-lyrics )

Durante
Durante(@durante)
Antwort an  Margarine Tyrell
Vor 2 Jahre

„Als die Pandemie begann, gab es zum Beispiel von Eventim statt Ticketrückerstattung nur Gutscheine.“
…und das Ticket-Geld für verschobene Konzerte/Veranstaltungen blieb auch mal eben 1-2 Jahre bei Eventim „liegen“ anstatt bei den teilweise verzweifelten Veranstaltern & Künstlern zu landen. :-(
Von meinen persönlichen Erfahrungen mit diesem Saftladen will ich gar nicht erst anfangen…

Gruftwurm
Gruftwurm (@guest_61347)
Vor 2 Jahre

Wie schon im Artikel erwähnt, sind erst dieses Jahr viele Lockerungen nach der ganzen Pandemie in Kraft getreten. Ich denke es muss sich erst auch alles wieder einpendeln. Besonders jetzt machen sich die Auswirkungen der Pandemie auch in der Ferienzeit bemerkbar, durch die Streichung der vielen Flüge.

Durch den Krieg und die Inflation macht sich die finanzielle Sorge auch bei vielen Menschen breit und der Gürtel muss enger geschnallt werden. Und richtig, Corona ist immer noch da….
Alles mögliche Auswirkungen für den diesjährigen Besucherrückgang auf dem WGT.

Generell finde ich den Gedanken zu einer neuen Ära nicht schlecht. Ich würde es begrüßen.

Gruftwurm
Gruftwurm (@guest_61379)
Antwort an  Robert
Vor 2 Jahre

Ich bin auch Deiner Meinung, das nach der Pandemie vieles wieder beim alten sein wird. Vielleicht aber nicht unbedingt für jeden Festival- oder Konzertbesucher.

Wie ich mir eine neue Ära vorstelle. Ich finde die Idee von das H.Gen sehr toll. :)

Victor von Void
Victor von Void(@vivovo)
Vor 2 Jahre

Ich kann mir zwei Szenarien vorstellen, bei denen Leipzig zu Pfingsten weiterhin der Mittelpunkt der Schwarzen Welt bleibt:

  1. Das 30ste WGT führt zu einer Wiederbelebung dieses speziellen Festivals nach der Pandemie. Vorraussetzungen dafür sind eine bessere Planungssicherheit durch frühere und offenere Kommunikation und die Vermeidung von überzogenen Preiserhöhungen seitens der Veranstalter, sowie weniger szene-fremde parallele Veranstaltungen.
  2. Zu Pfingsten wird es viele kleinere, unabhängige Veranstaltungen geben (ähnlich dem GPF), die es erfolgreich schaffen, weiter ihr Publikum zu finden. Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass sich die jeweiligen Veranstalter zusammenraufen, koordinieren und ihre Interessen gemeinsam auch gegenüber der Stadt und Vermietern vertreten, denn riesige Parallelveranstaltungen außerhalb der Szene, wie sie über die Jahre mit den diversen Stadtfesten, Klassik-Festivals und seltsamen Messen immer wieder vorkamen, führen wegen der Konkurrenz zu völlig überhöhten Veranstaltungs- und Übernachtungskosten, was mit Sicherheit keiner der konkurrierenden Veranstaltungen helfen wird.

Ehrlich gesagt halte ich aber Option 1 für die realistischere von den positiven Optionen (die negative wäre der Niedergang des „schwarzen“ Leipzig). allerdings sehe ich gerade beim kommenden WGT große Fragezeichen, weniger wegen COVID (auch wenn das für uns dieses Jahr der Hauptgrund war, bestätigt durch so einige Bekannte, die es sich beim WGT zugezogen haben), sondern eher wegen der monetären Situation mit allseits hohen Kostensteigerungen.
Ich bin mir zwar sicher, dass der Preis für uns selbst eher kein Problem wäre, aber wir gehören dabei (noch) zu den wenigen Glücklichen. Für viele andere sieht das anders aus, und deshalb habe ich doch große Befürchtungen, dass die Pandemie am Anfang und nun die Situation mit der Inflation und hohen Energiepreisen so etwas wie den Anfang vom Ende des „Schwarzen Leipzig“ darstellt.

Ein weiterer Punkt, der eher für einen Niedergang spricht, liegt aus meiner Sicht in einer eigentlich positiven Entwicklung: in diesem Jahr gibt es wieder viel mehr Veranstaltungen für uns.
So viele, dass ein großer Teil davon parallel läuft und sich gegenseitig die Besucher streitig macht, was dann wiederum dazu führen könnte, dass Szene-Veranstaltungen wegen kommerzieller Erfolglosigkeit wieder eingeschränkt werden.
Gleichzeitig führt diese Zersplitterungen dazu, dass das Szene-Gefühl verloren geht, weil plötzlich statt 400 Leuten nur 80 zu einem Konzert einer Band aufschlagen, man weniger bekannte Gesichter entdeckt, und es generell irgendwie unpersönlicher und trauriger erscheint, weil die Hallen plötzlich halb leer sind. Zudem führt die schiere Masse an Konzerten und sonstigen Veranstaltungen zu einer Übersättigung, die sicher auch keine positiven Folgen haben wird.

Das Problem beim „Back to the Roots“ Ansatz von das H.Gen sehe ich darin, dass die Szene und ihrer Menschen bei weitem nicht mehr so jung und dynamisch sind, wie vor 30 Jahren. Da wird viel Zeit und Energie fehlen, die man früher vielleicht noch mehr oder minder problemlos aufbringen konnte.

Letzte Bearbeitung Vor 2 Jahre von Victor von Void
Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Vor 2 Jahre

Hier geht’s zwar um eine andere Szene, aber es wird ganz gut erläutert, warum Festivals inzwischen leider so viel mehr kosten (müssen): https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/av7/video-brandenburg-festivals-geldnot-preissteigerungen-voov-festivalstart.html

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Antwort an  Tanzfledermaus
Vor 2 Jahre

hier noch ein ausführlicheres Interview, nochmal besser als der kurze Videobeitrag zum Thema:
https://www.rbb24.de/kultur/beitrag/2022/08/festivals-brandenburg-nach-corona-situation-interview-oesingmann.html

Ich hab mir eben mal die Webseite des Wurzelfestivals angeschaut, dass mir bisher absolut gar nichts sagte. Klingt von der Idee und Umsetzung her interessant, davon könnte sich das WGT mal Inspiration holen, um die Leute bei der Stange zu halten (z.B. in Sachen Mitbeteiligung der Besucher, Eingehen aus Besucherwünsche usw.).
https://www.wurzelfestival.de/infos/wurzelphilosophie/

Letzte Bearbeitung Vor 2 Jahre von Tanzfledermaus

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