Ein Trauermarsch in Leipzig? Während des Wave-Gotik-Treffens 2019 in Leipzig fand erstmals in der Geschichte des Treffens eine Demonstration in Form eines Trauermarsches statt. Unser Autor Stefan Kubon hat sich für Spontis dort umgesehen und seine Eindrücke ausführlich dokumentiert. Er fragt sich auch: „Wie politisch ist die Szene?“ und meint, dass die Politwelle nun auch in unserer Szene angekommen ist.
Kurz vor Pfingsten hörte ich davon, dass die politische Bewegung “Extinction Rebellion“ (XR) während des WGTs auf das Artensterben hinweisen möchte. Am 10. Juni sollte die Öffentlichkeit durch einen “großen Trauermarsch für aussterbende Arten“ für das Thema sensibilisiert werden. Nachdem ich mich über XR informiert hatte, war ich von der Idee begeistert. Negativ an dem Trauermarsch war eigentlich nur, dass er zeitlich mit dem Spontis-Treffen kollidierte. Doch zum Glück gehört die Lebensform Spontis-Family nicht zu einer bedrohten Art, deshalb habe ich das Spontis-Treffen (wieder einmal) aufs nächste Jahr verschoben und bin zur Demo am Bayrischen Platz gepilgert.
Wenige Minuten nach dem offiziellen Demobeginn um 13 Uhr erreichte ich den Platz. Die Veranstaltung war gut besucht: Die Organisatoren hatten mit 500 Teilnehmern gerechnet, diese Zahl wurde deutlich übertroffen. Durch die Redebeiträge der Eröffnungskundgebung wurde das Problem des Artensterbens auf sinnvolle Weise veranschaulicht. Besonders Oswald Henke (GOETHES ERBEN) fand eindrucksvolle Worte, um auf den Skandal des Artensterbens hinzuweisen. Dabei betonte er, dass die Schwarze Szene prädestiniert dafür sei, diesen Skandal anzuprangern. Denn es sei charakteristisch für die Szene, die Schattenseiten der Welt zu thematisieren.
Oswald Henke forderte mehr Nachhaltigkeit
Henke rief dazu auf, das herrschende Wirtschaftssystem grundlegend zu reformieren. Eine deutlich nachhaltigere Form des Wirtschaftens sei das Gebot der Stunde. So sei es möglich, dem Artensterben entgegenzuwirken. Zudem sei die Reform des Wirtschaftssystems nötig, um der Menschheit das Überleben zu sichern. Schließlich zerstöre der Mensch mit seiner hemmungslosen Ausbeutung des Planeten nicht nur die Lebensräume vieler Tierarten, sondern auch seine eigenen Lebensgrundlagen.
Ferner verwies Henke auf den Zusammenhang zwischen Artensterben und Klimawandel. Bekanntlich trägt die Erderwärmung dazu bei, dass viele Arten ihren Lebensraum verlieren. Henke stellte klar, dass die Leugnung des menschengemachten Klimawandels vor allem eines ist: Ein Ablenkungsmanöver, durch das die Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Erderwärmung nötig sind, verhindert werden sollen. Erfreulicherweise betonte Henke mit Nachdruck einen sehr wichtigen Aspekt bezüglich der Frage, ob die Menschheit verantwortlich für den Klimawandel ist: Die besagten Maßnahmen wären selbst dann sinnvoll, wenn die Erderwärmung nicht menschengemacht wäre!
Um 13.20 Uhr setzte sich der Trauermarsch in Bewegung. An der Spitze lief ein Trommler mit gespenstisch anmutender Gesichtsbemalung, dann folgten zwei trauernde Witwen und schließlich kamen die Sargträger. Es dauerte fast 10 Minuten, bis sich alle Demonstranten in den Trauermarsch eingereiht hatten, so groß war der Andrang! Fast alle Trauernden hatten schwarze Kleidung an. Die Länge der Prozession war beeindruckend: Ich vermute, sie betrug 300 bis 400 Meter. Schätzungsweise waren 1500 bis 2000 Menschen an dem Marsch beteiligt. Die Atmosphäre habe ich als stimmig empfunden. Sie entsprach dem Motto der Veranstaltung. Die Stimmung war ernst, aber nicht verkrampft – und vor allem war sie eines: etwas Besonderes, denn sie war sehr feierlich! Ich denke, die Idee des Trauermarsches wurde von den Organisatoren und den Teilnehmern perfekt umgesetzt.
Langsam und bedächtig bewegte sich der Trauermarsch vorwärts, sein Zwischenziel war die Moritzbastei. Als der Marsch dort ankam, war bereits alles so gut vorbereitet, dass die folgenden Programmpunkte reibungslos ablaufen konnten. Zunächst sprach Dr. Mark Benecke einige Worte. Benecke ist bekanntlich promovierter Biologe, es war also naheliegend, dass er sich zum Thema äußert.
Dr. Mark Benecke empfahl, weniger Fleisch zu essen
Benecke monierte, dass insbesondere der gigantische Fleischkonsum dafür verantwortlich ist, dass die Natur zerstört wird. Zu Recht kritisierte er, dass wegen des hohen Fleischkonsums riesige Waldgebiete gerodet werden. Und Benecke konkretisierte diesen Sachverhalt: Durch Waldrodungen werden die gewaltigen Agrarflächen gewonnen, auf denen das Futter für die unzähligen Tiere erzeugt wird, deren Aufzucht nur deshalb nötig ist, um den absurd hohen Fleischkonsum gewisser Menschen zu ermöglichen. Folgerichtig forderte der Biologe die Teilnehmer des Trauermarsches dazu auf, weniger Fleisch zu essen. So könne man der Zerstörung der Lebensräume bedrohter Arten entgegenwirken.
Zudem wies Benecke darauf hin, dass es vermutlich nicht erforderlich sei, die Teilnehmer des Trauermarsches von der Wichtigkeit des Artenschutzes zu überzeugen. Denn die Teilnahme an der Demo zeige ja, dass bereits eine große Sensibilität für dieses Thema bestehe. Allerdings sei es wichtig, Menschen von der Notwendigkeit des Artenschutzes zu überzeugen, die (noch) nicht davon überzeugt sind, aber eine gewisse Offenheit für das Thema Naturschutz erkennen lassen. Benecke gab aber auch zu bedenken, dass es Menschen gibt, die für dieses Thema grundsätzlich nicht empfänglich sind. Bei ihnen könne man sich jegliche Überzeugungsarbeit sparen.
Anke Hachfeld sang einen Joik – und war sehr ernst
Nachdem Benecke seine Rede beendet hatte, trat Anke Hachfeld (MILA MAR) ans Mikro, um mit ihrer wundervollen Singstimme dem Anliegen des Trauermarsches Nachdruck zu verleihen. Hachfeld sang einen Joik, also einen traditionellen Gesang der Samen. Dies war eine gute Idee, denn zur Weltanschauung der Ureinwohner Lapplands gehört der folgende Leitgedanke: Die Natur ist etwas Heiliges, sie sollte respektvoll behandelt werden. Während des Auftritts wurde mir schnell klar, dass Hachfeld das Thema des Trauermarsches sehr wichtig sein muss: Ich habe die Sängerin schon oft live erlebt, so ernst wie bei diesem Auftritt war sie noch nie. Als Hachfeld ihren bewegenden Auftritt beendet hatte, setzte sich der Trauermarsch erneut in Bewegung. Das nächste Ziel war der Willy-Brandt-Platz am Hauptbahnhof, dort sollte die Abschlusskundgebung stattfinden.
Während der Demonstrationszug startete, wurde ich Zeuge eines kuriosen Ereignisses: Ein Verkäufer von Grill- bzw. Fleischwaren konnte offenbar den Sinn der Demo nicht verstehen. Deutlich vernehmbar stellte er den Teilnehmern des Trauermarsches mehrfach die Frage, warum sie so traurig schauen würden. Als jemand der Trauernden entgegnete, dass dies daran liege, dass dies ein Trauermarsch sei, schien ihn die Antwort nicht zu überzeugen. Denn nach dieser Replik forderte er die Trauernden mehrfach dazu auf, mehr Lebensfreude an den Tag zu legen. Während er dies lautstark forderte, lief er hinter der relativ langen Fleischtheke seines Verkaufsstandes hektisch auf und ab. Besonders nach der Rede von Dr. Mark Benecke wirkte das alles sehr grotesk auf mich.
Auf dem Weg zum Bahnhof konnte ich erneut feststellen, dass die Demoroute sehr gut gewählt war. Denn der Streckenverlauf glich einem Zick-Zack-Weg. So wurde sichergestellt, dass möglichst viele Menschen die Demo sehen mussten. Während der Prozession sah ich immer wieder Menschen, die durch ihre Gestik und Mimik zu erkennen gaben, dass ihnen das Thema des Trauermarsches gar nicht gefiel. Aber es gab auch Menschen, die sich spontan in den Trauerzug einreihten.
„Ich möchte ‚kein‘ Eisbär sein, am ‚warmen‘ Polar!“
Auch bei dieser Demo fand ich es sehr interessant, die verschiedenen Spruchbänder, Plakate und Schilder zu betrachten. Es gab ein Plakat, das sich auf den GRAUZONE-Song “Eisbär“ bezog. Auf dem Plakat stand eine passende Variante des Songtextes, denn dort war zu lesen: “Ich möchte ‘kein‘ Eisbär sein, am ‘warmen‘ Polar!“. Erwähnenswert ist auch, dass ich an einer Stellwand vorbeilief, auf der ein Koalabär abgebildet war, dessen Gesichtsausdruck sehr freundlich wirkte. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass der Bär so gute Laune hatte, weil er sich über die Demo freute. Dass die Wand dort stand, war höchstwahrscheinlich ein Zufall. Ich denke nicht, dass sie etwas mit der Demo zu tun hatte. Die Marschierenden verzichteten darauf, die Wand in die Demo zu integrieren. Wie schwer dies fiel, wage ich nicht zu beurteilen.
Schließlich war es soweit: Der Trauermarsch erreichte gegen 15 Uhr sein Endziel am Hauptbahnhof. Zur Begrüßung gab es Livemusik der Band FELINE & STRANGE. Durch die kraftvolle Singstimme von Feline Lang wurde das brisante Anliegen der Demo wirkungsvoll unterstrichen. Nachdem die Band einen Song gespielt hatte, folgten mehrere Redebeiträge.
Einen Beitrag fand ich besonders eindringlich. Es war der Beitrag, bei dem mehrere Namen von Tierarten verlesen wurden, die aufgrund menschlichen Fehlverhaltens ausgestorben sind. Ich fand den Vortrag deshalb so eindringlich, weil durch diese konkreten Namensnennungen die Tragödie des Artensterbens wirklich greifbar gemacht wurde. Neben vielen anderen Tieren wurde der Beutelwolf genannt. Diese Tierart gilt seit 1936 als ausgestorben, weil der Mensch sie unerbittlich bejagt hat. Da ich Wölfe und wolfsähnliche Tiere besonders faszinierend finde, ärgere ich mich immer wieder aufs Neue, wenn ich an diese Schandtat erinnert werde. (Es gibt übrigens einen sehenswerten Spielfilm, der die Ausrottung des Beutelwolfs zum Thema hat. Der Film heißt “The Hunter“. Meine Rezension kann man hier lesen.)
Sehr wichtig war auch noch ein Redebeitrag, der in englischer Sprache vorgetragen wurde. In dem Beitrag wurden die zentralen Forderungen von ER genannt. Diese Forderungen können hier nachgelesen werden.
“Die-In“ als krönender Abschluss
Nach den Redebeiträgen war es Zeit für den krönenden Abschluss der Veranstaltung. Dafür wurde auf die Protestform des “Die-In“ zurückgegriffen. Zunächst erklärte ein ER-Aktivist, wie die Aktion im Detail ablaufen sollte. Das Die-In verlief dann tatsächlich so, wie es geplant war: FELINE & STRANGE spielte ein Lied – und als die Sängerin das Wort “Die“ schrie, ließen sich die Trauernden wie tot zu Boden fallen. Die “Toten“ blieben so lange liegen, bis sie das Zeichen zum Aufstehen hörten. Bis dahin vergingen zwei Minuten, dann wurden die “Toten“ durch ein feierlich klingendes Trompetensolo wieder zum Leben erweckt. Bei dem Solo handelte es sich übrigens um das bekannte Trompetensignal “Taps“, das laut Wikipedia in den USA ein fester Bestandteil militärischer Trauer- und Beisetzungszeremonien ist.
Mehrere hundert Menschen haben sich an der eindrucksvollen Abschlussaktion beteiligt. Verständlicherweise wollten sich nicht alle Demonstranten auf den Boden legen. Diese Demonstranten hatten sich auf Anraten des ER-Aktivsten, der die Aktion erläutert hatte, bereits rechtzeitig an den Rand der Demo begeben. Erfreulicherweise gelang es so, dass das Die-In durch seine lückenlose Struktur eine besonders starke optische Wirkung entfalten konnte. Weil ich mich an der Aktion beteiligt habe, habe ich leider keine Fotos machen können. Es gibt allerdings auf YouTube ein Video dazu:
Nach dem Die-In wurde die Demo offiziell beendet. Die Organisatoren erhielten noch viel Applaus für ihre Arbeit. Anschließend spielte FELINE & STRANGE noch einen Song, dann war die Veranstaltung wirklich beendet. Die Demonstranten verteilten sich in alle Himmelsrichtungen. Es war jetzt fast 15.45 Uhr. Die Demo dauerte also fast eine dreiviertel Stunde länger als geplant. Auch das spricht für den Erfolg der Veranstaltung. Der Trauermarsch war eine tolle Idee. Erfreulicherweise sahen das viele WGT-Besucher genauso. Die große Menge der Demonstranten aus der Schwarzen Szene war beeindruckend. Es war schön, zu sehen, dass sich viele Szenemitglieder offensichtlich nicht nur wegen der Musik und gewissen anderen ästhetischen Vorlieben miteinander verbunden fühlen.
Wie politisch ist die Szene wirklich?
Es wurde ja schon oft behauptet, die Schwarze Szene sei eine Subkultur, die sich wenig für Politik interessiere. Angesichts der Demo stellt sich die Frage, ob diese Behauptung wirklich (noch) zutrifft. Ich bin der Meinung, dass diese Behauptung schon immer falsch war, zumindest wenn man die Mehrheitsgesellschaft (also die “Normalos“) als Vergleichsgröße nimmt. Doch wie kam es zu der irrigen Annahme, dass sich die Szene weniger für Politik interessiert als der Rest der Gesellschaft?
Meines Erachtens liegt das daran, dass sich das politische Interesse der Szene meistens in einer Form äußert, die als politische Abstinenz fehlinterpretiert werden kann. Zumeist sind es die diskreten politischen Aktivitätsformen, die von der Szene bevorzugt werden. Doch politische Teilhabe, die eher im Stillen und Verborgenen stattfindet (Infos sammeln, wählen gehen, Geld spenden, Unterschriften leisten usw.), wird gerne als unbedeutend eingestuft. Von der Außenwelt werden diskrete Formen der politischen Teilhabe nicht selten mit dem Etikett “unpolitisch“ versehen bzw. fehlinterpretiert. Gleichzeitig neigt der gesellschaftliche Mainstream dazu, Menschen nur dann ein ausgeprägtes politisches Interesse zu bescheinigen, wenn sie sich schriller politischer Aktionsformen bedienen. Und es sind eben genau diese Aktionsformen, mit denen die überwältigende Mehrheit der Szene nichts zu tun haben möchte. Dies ist zumindest mein Eindruck.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: In welcher Beziehung die Demo in Leipzig zu den von der Szene bevorzugten diskreten politischen Teilhabeformen steht? Ich denke, diese Demo kann als Zeichen einer Erneuerung der Szene gewertet werden, denn vermutlich stimmt die These, dass es ein neues Phänomen ist, dass die Szene die politische Aktionsform der Demo verwendet. Doch dieser neue Aktivismus ist wahrscheinlich nur deshalb möglich geworden, weil er an die bestehenden ästhetischen und politisch-inhaltlichen Vorlieben der Szene anknüpft. Diese Demo verdeutlicht: Die Szene ist dazu fähig, dem Drang nach Veränderung und dem Drang nach Kontinuität – zwei Triebfedern, die in jeder sozialen Bewegung existieren – konstruktiv zu begegnen.
Nicht jede politische Aktionsform ist szenekompatibel!
Bekanntlich ist die politische Stimmung in Deutschland seit einigen Jahren sehr aufgeladen. Ein Politisierungsschub geht durch die Gesellschaft. Dass diese Politwelle irgendwann in der Szene ankommt, war anzunehmen. Dass nun Teile der Szene zum Demonstrieren auf die Straße gegangen sind, empfand ich als positiv. Denn es geschah auf eine Weise, bei der die besondere Identität der Szene beachtet wurde. Wenn eine Szene-Demo mit gedämpften und düsteren Protestformen agiert (Trauermarsch, Die-In), kann ich das begrüßen. Erfreulicherweise war diese Demo alles andere als eine Krawallveranstaltung. Krawalldemos sollten auch weiterhin in der Szene keinen Platz haben. Radaubrüder gibt es schon genug auf der Welt.
Für mich war die Teilnahme an dem Trauermarsch das intensivste Erlebnis des diesjährigen WGTs. Ich hatte erstmalig das Gefühl mich wirklich in der Szene zu befinden und mit den Menschen um mich herum auf einer Wellenlinie zu ticken. Das Gemeinschaftsgefühl und der Respekt untereinander waren unglaublich und die Verlesung einzelner bislang ausgestorbener Arten, ein paar wenige Beispiele von unfassbar vielen, sowie das abschließende, gemeinsame die-in haben mich viel mehr bewegt, als ich gedacht hätte.
Ich bin unfassbar froh, dass es diesen schlauen, liebenden, humanistischen und tiefgründigen Teil der Szene gibt und ich war erst überrascht, dann wirklich tief bewegt, dass dieser Teil doch so groß ist. Bei all dem prolligen Müll, der auf Facebook und Foren zu lesen ist hätte ich gar nicht damit gerechnet.
Ich teile die Meinung des Autors, dass die Szene nie unpolitisch war. Viele einfache Geister setzen mit „politisch sein“ eine einfache rechts-links-Positionierung gleich. Das ist zum einen zu kurz und, mit Verlaub, zu simpel gedacht. Zum anderen wurde offensichtlich der Begriff „politisch“ nicht begriffen. Allein eine Meinung zu haben und sie zu leben ist politisch. Schwarz zu tragen ist politisch. Blinden Konsum und Bausparvertrag-Haus-Kind-Hund-Auto-Lebensentwürfe abzulehnen ist politisch. Ich könnte die Liste endlos fortsetzen. Henke hat recht: Wer, wenn nicht wir, sind dafür geeignet, die Missstände bedingt durch Konsum, durch Gier, durch Empathiemangel aufzuzeigen?
Grade dieser Trauermarsch hat mir die Szene emotional wieder näher gebracht. Danke an alle, die dabei waren.
Ich habe erst durch diesen Artikel von der Demonstration erfahren und finde sie – zumindest so, wie der Autor sie wiedergegeben hat – eine im Ansatz löbliche Veranstaltung. Allerdings aufgrund einer einzelnen Demonstration gleich eine „Politisierung“ der Szene in Aussicht zu stellen, halte ich für übertrieben. Ich denke, dass es gerade auch ein bisschen „en vogue“ ist, für den Erhalt der Erde zu demonstrieren. Hambacher Forst oder „Fridays For Future“ haben die deutsche Demonstrationskultur wieder etwas aufleben lassen (als halber Franzose vergleiche ich sie immer die „Demonstrationslust“ in Frankreich, die bei weitem größer ist als hierzulande), und das WGT als Anlass zu nehmen, um für eine bessere (Um)Welt zu demonstrieren, ist passgenau im gegenwärtigen Trend eingepflegt.
Letzten Endes ist so ein Demonstrationszug auch nur dann wirklich sinnvoll, wenn die Beteiligten auch ernsthaft darüber nachdenken, woher sie beispielsweise ihre Nahrung beziehen oder wo und wie die gängigen Szene-Modelabels ihre Konfektionsware produzieren lassen. Die nachhaltig geklöppelten Pikes, Lederhosen oder Netzhemden halte ich dann doch eher für Illusion.
Ich will niemandem diese Demonstration madig machen, aber dass sie den „Gruftie an sich“ zu einem zoon politicon werden lässt, glaube ich nicht. Auf der anderen Seite kann man auch das nihilistische Handeln der Schwarzen Szene als politisches Statement verstehen. Dass die Umweltfrage aber da eine Rolle spielt, wäre in der Tat etwas ganz neues.
Daniel el
Dieser Umzug war innerhalb der Szene im Vorfeld hochpolitisch. Es gab lange Threads auf Facebook und die Initiator*innen wurden immer wieder zwischen (und auch ganz deutlich auf den Zeilen) als linksgrünversiffte Gutmenschen beschimpft. Auch nach dem WGT ging der Shitstorm weiter. Insofern haben 2000 Menschen (soviel waren geschätzt dabei), trotz Gegenwind, etwas ziemlich Cooles auf die Beine gestellt.
Ich stimme dir zu, dass jeder Einzelne der Demo in der Pflicht ist, sein eigenes Konsumverhalten zu überdenken und zu verbessern. Zusätzlich ist aber eine Demo (und dieser Trauermarsch auch) dazu da, zum einen die Zuschauer für das Thema zu sensibilisieren und zum anderen Politik und Entscheider*innen aufzuwecken. Der große, klimabewegende Co2-Ausstoß geschieht an Orten, die wir als Einzelverbraucher nicht großartig bewegen können. Hier muss die Politik sensibilisiert werden und die Wähler dementsprechend wählen. Dieses Bewusstsein dafür schärfen geht nur, indem das Problem sichtbar wird. Wenn Wissenschaftler, Naturkatastrophen und Statistiken das nicht schaffen, müssen eben wir kleinen Leute auf die Straße.
Was nicht geht: Eine berechtigte und gute Forderung „ad absurdum“ führen zu wollen, indem den Demoteilnehmer*innen Fehlverhalten im Detail vorgeworfen wird. Es ist unfassbar schwer das Verhalten so umzustellen, dass deine Existenz den maximal kleinen Co2-Fußabdruck hinterlässt. Wir können nur anfangen und versuchen an den Stellschrauben, die wir halt haben, zu drehen. 100%ige Perfektion wird keine*r von uns erreichen.
Es ist schön und auch völlig okay, wenn es für einige Leute einfach „en vogue“ ist für die Natur zu demonstrieren. Das stärkt letztendlich die Masse. Aber die meisten Teilnehmer*innen der Demo haben tatsächlich begriffen, dass die Welt wirklich und ernsthaft brennt. Uns treibt nicht die Langeweile um. Uns treibt eine Angst.
Ich selber habe seit 2004 eng mit Naturwissenschaftlern zusammen gearbeitet. Das Thema Insektensterben ist 20 Jahre alt und wird hier in Deutschland fortlaufend dokumentiert, nur hat es kein Schwein interessiert. JETZT wird es richtig akut und supergefährlich. Noch dieses Jahr habe ich einen Entomologen in Costa Rica, einem Biodiversitäts-Hotspot schlechthin, fast in Tränen ausbrechen sehen, weil seine Lichtfallen leer waren. Leere Lichtfallen an solch einem Ort dokumentieren ein ganz krass schreckliches Insektensterben im Regenwald. Jede einzelne, unterbezahlte Wissenschaftler*in aus den Naturwissenschaften kämpft seit Jahren gegen Windmühlen :(
Ich bin auf dem Trauermarsch gewesen, weil mir bewusst geworden ist, dass ich wahrscheinlich die letzte Generation bin, die diesen Regenwald so in seiner ursprünglichen Form sehen durfte.
Ich sehe die Aktion zwiegespalten. Natürlich eine gute Sache so eine Demo…. aber, was sind die Folgen? Kommt wieder mein geliebtes Gedankenspiel „Einzelner Bürger“ und „Bürger in der repräsentativen Demokratie“. In diesem Fall: 1. Wird es wirklich mehr Bürger geben, als Ergebnis durch die Demo, die von sich aus, jeder für sich allein, und alle in der Gruppe, konkret mehr zum Erhalt von Arten tut/tun, bzw mehr schädliche Verhaltensweisen nachhaltig unterlässt/unterlassen? 2. Wird es mehr Bürger geben, die sich aktiv in den Parteien mit „Arten schützenden Parteiprogrammen“ einbringen und als gewählte „Amtsträger“ an Entscheidungen und Gesetzesgebungen mitwirken, die mehr „schädliches“ Verhalten eindämmen und mehr „nützliches“ Verhalten förderen? 3. Werden diese Vertreter mehr gewählt…. und wenn diese Vertreter mehr gewählt werden, sind überhaupt genug Aktive da (siehe Punkt 2). Meine Meinung dazu: Maximale Aktion im Rahmen eines Festivals, kaum messbare Auswirkungen auf Punkt 1, verschwindet geringe noch weniger messbare Auswirkungen auf Punkt 2, kaum messbare Auswirkungen auf Punkt 3. — Sorry, ist meine Meinung als „schwarzer“ politisch aktiver Realo. Und das gilt für die ganze Gesellschaft in meinen Augen. Die Parteien in dem Spektrum dürften sich ja vor Mitgliedern und Kandidaten kaum retten können. Auch BUND, NABU, etc etc vor aktiven Mitgliedern die ackern das die Schwarte kracht kaum retten können… so „uff, wir kommen kaum nach die Neuen noch zu verteilen“. Außerdem müsste man eine deutliche Veränderung in Konsumverhalten, Geländenutzung ( immerhin ist Deutschland ja viel viel Kulturlandschaft und wenig Naturlandschaft… ändert sich die Kultur müsste sich ja auch die Kulturlandschaft ändern) Gestaltung etc etc sehen… richtig sehen…. so „hey, da ändert sich richtig was“. Für mich ist der momentane Hype eine Art Ablasshandel fürs gute Gewissen. Ähnlich wie ein paar Wildblumenstreifen neben den riesen Monokulturen. Obs wirklich nachhaltig und spürbar etwas bringt, bleibt meiner Meinung nach abzuwarten. P.S. Warum sollte ich meine Sparpläne… es gibt ja sogar reine Ökofonds…. oder meinen Hund… der verhält sich besser als mancher Mensch… ablehnen? Jetzt aus gruftiger Sicht… oder aus grünlinksversifter? Und verbrenne ich jetzt erst den PkW oder meine Klamotten… ne, ich lehne beide erstmal nur ab, nutze die aber weiter. Danach stell ich mich an den Spielplatz, ägere mich über die Kinder die noch soviel Konsum, CO2 etc vor sich haben, und verachte die Eltern als Verursacher der Kinder und Menschen die sowas großziehen. ;-) *Humor an, pling, Humor aus, plop.
Eine irritierende und erschreckende Vorstellung – eine schwarze Szene, in der „die Politik ankommen“ soll. Ist denn von der Poltik noch irgendjemand nicht korrumpiert worden?
Aber gut, „Artensterben“. Gäbe es ein Artensterben, wenn es keine Menschen gäbe, die ein Artensterben beobachten und benennen könnten? Und nein, ich sage noch nichtmal, Menschen, die es verursachen! Die Natur regelt ihre Dinge selbst, sie braucht den Menschen nicht, und der Natur ist es auch ganz egal ob es Menschen gibt oder nicht.
Wäre es da nicht ehrlicher, anstatt ein „Artensterben“ zu betrauern, sich einzugestehen, dass der Mensch sich selbst schadet?
Aber heisst es nicht ständig: „Konsumiere mehr!“ „Warum hast du dir nichts gekauft?“ „Wenn du unglücklich bist, geh dir was kaufen!“
Wäre es da nicht der bessere Weg, einfach ein bischen verständiger, ein bischen liebevoller, ein bischen vertrauensvoller und offener mit unseren Nächsten umzugehen, auf dasss wir nicht ganz soviel in uns hineinFRESSEN müssen, auf dass wir nicht ganz soviel uns Selbst nur noch beim KAUFEN wahrnehmen können, anstatt gegen „Artensterben“ zu demonstrieren und so Schuldgefühle anzurufen, die wir dann noch zusätzlich zu allem anderen in uns hineinfressen müssen?
@Birte Ich würde auch gar nicht sagen, dass jeder einzelne sich 100% nachhaltig verhalten soll. Das kann keiner, so sehr er sich auch anstrengt. Aber die Frage, wie politisch die Szene an sich geworden ist, kann man nicht von einer Demonstration abhängig machen. Würden solche Aktionen mit auffälliger Breitenwirkung auch auf dem M’era Luna oder anderen Großveranstaltungen stattfinden und sich eine regelrechte „Bewegung“ daraus herauskristallisieren, die vielleicht auch über die Szenegrenzen hinaus seine Beachtung findet, könnte man wirklich von einer Politisierung der Gothic-Szene sprechen im Sinne einer klaren Haltung zu einem Thema, in dem Fall Umwelt. Momentan tummeln sich aber Menschen in der Szene herum, die politisch nach allen Seiten hin offen sind – bis hin zur absoluten Politikverweigerung. Weswegen es auch schwierig ist, eine politische Marschrichtung festzulegen, wie es beispielsweise bei Punk geschehen ist.
Ich bleibe dabei, das die Szene nie eine politische Einheit bilden wird und dadurch auch nicht politisiert werden kann. Das ist aber auch nicht das schlechteste ;)
Ich war dabei und habe mich doch sehr gefreut, wie groß die Beteiligung war. Für mich verbindet die Szene ja eine Empfindsamkeit, die in anderen Bereichen immer mehr zu fehlen scheint. Deshalb ist es für micht sehr logisch, dass beim Thema Klima überproportional viele Gruftis unterwegs sind.
Egozentrische Empfindsamkeit kann jeder, meiner Meinung nach – und das trifft vor Allem erstmal auf mich selbst zu – ist es eine Empfindsamkeit, die auch die „Anderen“, also das Umfeld mit einschließt, die das „Gruftisein“ ausmacht. Beim Artensterben im Bezug zu dem aktuellen politischen Diskurs ist – wieder nur von meinem Standpunkt aus gesehen – gesteigerte Präsenz „alternativer Subkulturen“ eigentlich logisch.
Daniel
Ich glaube die Szene war schon immer politisch. Wie geschrieben, schwarze Klamotten anziehen und sich dem Konsum-Hamsterrad entziehen ist an sich schon eine politische Aussage und die lässt sich übergreifend auf die ansonsten sehr diverse Szene anwenden (bis auf die üblichen Mainstream-Ausnahmen, die einfach nur Party machen wollen und unreflektiert sich Dinge aneignen. Aber die gibt es ja überall ;) ).
Ansonsten wird die Szene, und da stimme ich dir absolut zu, bzw. habe dir da auch nicht widersprochen, in Details divers bleiben. Ich bezweifle ebenfalls, dass auf reinen Musikfestivals wie M’era Luna o.ä. ähnliches entsteht wie es eben auf diesem WGT geschehen ist. Aber das WGT ist ja auch ein sehr besonderes Festival. Eben ein Treffen, auf dem nicht nur Musik und Kunst stattfindet, sondern auch ein intensiver Meinungsaustausch. Die Leute sprechen und diskutieren miteinander.
Der Trauermarsch hatte auch absolut nicht die Absicht, die komplette Szene auf einen bestimmten Bereich zu „nullen“, wie es gerne Verschwörungs-Aluhut-Leute, die es leider auch unter den Gothics gibt, gerne unterstellen. Den Teilnehmer*innen ging es einfach um ein Herzensanliegen, dass sie (aber eben nicht alle aus der Gothicszene) antreibt.
Fazit:
– Der Begriff „politisch“ wird gerne missinterpretiert, weil viele nicht wissen was „politisch“ eigentlich ist.
– Die Szene ist nicht unpolitisch, sondern sie ist politisch divers und wird es auch bleiben.
Mein Traum:
Schön wenn wir uns innerhalb der Szene auf einen humanistischen Denkansatz einigen könnten. Aber dieser Wunsch wird wohl unerfüllt bleiben, weil die Szene einfach zu groß ist und sich dementsprechend, und so ist das halt mit den Menschen…, eben auch immer wieder menschenfeindliche und egoistische Kräfte darunter finden.
Hallo Spontis,
ich freue mich über diesen ausführlichen Beitrag, der vom Grundtenor her durchaus wohlwollen klingt und der Szene auch eine politische Zurechungsfähigkeit zugesteht. Es gibt ja leider auch innerhalbder Szebne Leute, die der Meinung sind, wir hätten entweder „unpolitische (was immer das heißen soll) Schäfchen zu sein, die sich anscheinend komplett von der Welt abschotten… oder doch bitte gleich stramm Rechts, ohne das freilich direkt anzusprechen. Gerade letztgenanntes Klientel hat uns für unsere Teilnahme hier auf Facebook sehr attackiert.
Unsere Gruppe war mit den Pappsärgen und den Outfits auf der Demo sehr präsent und ganz vorne mit dabei.
Vor allem von älteren „Gothics“, Typ Glatzenmann mit Pandabärchenbemalung und Rocker-Shirt, durften wir uns hinterher anhören, wir seien von den Grünen/Linken/der Merkeldiktatur/den Illuminaten „gesteuert“, würden die Szene mit unserem „Gutmenschentum“ „politisieren“ und überhaupt sei der Klimawandel ja sowieso nur eine Erfindung der“Linken“. So etwas Politisches hätte in der armen Szene nix zu suchen.
Das die gleichen Leute natürlich selbst mit ihrer eigenen politischen (braunen) Meinung nicht hinterm Berg halten, teils in ihrem eigenen Gezeter über die Demo, brauche ich kaum hinzuzufügen.
Angesichts so viel Beschränktheit ist euer Text sehr heilsam.
Danke dafür.
Rosendorn : Diese Demonstration ist „Neuland“ für die Szene, denn erstmals hat man sich auf dem WGT zusammengeschlossen, um zu demonstrieren. Damit umzugehen, müssen wir erst noch lernen.
Ich persönlich glaube zum Beispiel nicht, dass man diese Demo in irgendeine ideologische Richtung, sei es nun „links“ oder „rechts“ schieben kann. Sie wirkte auf mich zwar politisch, aber nicht im Sinne eine Anprangerung von Missständen mit dem herrschenden System oder deren Verteilung. Es ging wohl eher um Gesamtpolitischen oder Gesamtgesellschaftlichen Probleme. Es ging auch nicht darum, wie welche Partei dieses Stimme des Volkes für sich interpretiert.
Es kann nicht im Interesse irgendeiner Partei sein, dass Tiere und Arten vom Aussterben bedroht sind. Die Leute, von denen du sprichst, sind nur darauf aus, gegen etwas zu sein. Sei es nun sinnvoll oder nicht. Wo kämen wir denn hin, wenn in der Politik alle Parteien am gleichen Strang ziehen würden? Also bitte :)
Ich für meinen Teil finde den Schritt, parallel zum WGT diese Demo durchzuziehen, ausgesprochen richtig! Denn uns alle betrifft dieses Thema, ob man es nun wahrhaben will oder nicht. Ausnahmslos. Und da geht es, wie bereits dargelegt, nicht um Parteien oder Meinungen.
Es ist Fakt, dass an jedem Tag ungezählte Arten durch den Einfluss des Menschen aussterben. Sie sind einfach weg. Die genetische Information gelöscht, unwiederbringlich. Egal, ob Säugetier, Kopffüßler oder im Boden lebende Bakterienstämme. Und alle anderen Verknüpfungen und Einflussnahmen auf das – mindestens – lokale, wenn nicht sogar regionale oder globale Umweltsystem ebenfalls, und damit meine ich nicht nur die Biosphäre… Das traurige an der Sache ist, dass man erst den Wert einer Art – ob nun für den Menschen, oder generell für die Umwelt – fast immer erst entdeckt, wenn sie verschwindet oder bereits verschwunden ist. Doch dann ist es zu spät.
Von daher ist es klasse, dass das die Organisatoren und die Teilnehmer, ihrerseits offenbar häufig WGT-Besucher, nun auch diese sachbezogenen Stellungnahme hervorgebracht haben. Einfach (endlich?) mal passend und stilvoll Stellung bezogen, ganz dem Credo entsprechend, welches ja immer wieder der Schwarzen Szene nachgesagt wird – und damit einfach mal gezeigt, dass abseits von Party hier, Klamotten da, Selfie dort, durchaus etwas konkretes, inhaltlich verbindendes vorhanden sein kann.
Dass dieses scheinbar ganz ohne Anlehnung an eines der aktuellen Lager in unserer politischen Landschaft geschah, begrüße ich ausdrücklich.
Für mich war die Schwarze Szene immer sachbezogen und keinem Lager eindeutig zuzuordnen, dafür ist sowohl sie selbst, als auch die Gesellschaft und ihre Politik viel zu divers und komplex. Anbiederung steht ihr nicht, daher hoffe und erwarte ich auch, dass dies in keiner Form geschehen wird, vor allem nicht so vereinfacht unterteilt in schwarz und weiß, respektive links und rechts.
In diesem Sinne ein Dankeschön an alle Teilnehmer (in welcher Form auch immer) von einem Ferngebliebenen…
Danke für die Kommentare.
Es gab einen Shitstorm gegen die Demo? Das ist ja interessant – und erschreckend. Ich bin nicht bei Facebook angemeldet, deshalb schaue ich dort nur selten vorbei. Aber danke an alle, die dort dem rechten Mob Paroli bieten. Ein Shitstorm gegen diese Demo – das hat ja geradezu tragisch-komische Züge. Das heißt ja, man ist dagegen, die Lebensgrundlagen der Menschheit zu erhalten. Und die Demoteilnehmer sollen „linksgrün-versiffte Gutmenschen“ sein? Die Bezeichnung „linksgrün-versiffter Gutmensch“ ist mittlerweile ja geradezu zu einem Gütesiegel geworden. Wer von gewissen Zeitgenossen mit dieser Vokabel belegt wird, der kann in seinem Leben zumindest nicht alles falsch gemacht haben.
Kurioserweise werden solche Wortmeldungen ja nicht selten von Menschen getätigt, die sich als „konservativ“ bezeichnen. Doch wer sich als konservativ bezeichnet, sollte ja eigentlich ein Interesse daran haben, die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit zu bewahren.
Häufig handelt es sich bei diesen „Konservativen“ um sehr weit rechts stehende Zeitgenossen. Und denen geht es vor allem darum, die eigenen Privilegien zu sichern. Diese Menschen lieben im Grunde genommen nur sich selbst. Der eigene wohlstandschauvinistische Lebensstil soll um jeden Preis verteidigt werden. Letztlich heißt das: Menschen und Tiere müssen bis zum letzten Blutstropfen ausgebeutet werden. Und politisch vermarktet wird dieser dekadente Lebensstil mit den Etiketten „konservativ“ oder „patriotisch“. Die Akteure dieses Etikettenschwindels präsentieren sich dann als „Alternative“ – und leider fallen manche Menschen tatsächlich darauf rein. Wenn es nicht so traurig wäre, man müsste darüber lachen.
Und zur Frage des „Wir-Gefühls“ in der Schwarzen Szene: Meines Erachtens sind es eben nicht nur die Musik und andere ästhetische Aspekte, durch das dieses Gefühl greifbar wird. Zumindest ein erheblicher Teil der Szene ist auch durch einen politischen Konsens miteinander verbunden, wenngleich es sich dabei sicherlich eher um einen Minimalkonsens handelt. Aber gerade dieser Minimalkonsens ist elementar für die Szene.
Dieser Minimalkonsens besteht nach meiner Einschätzung in einer besonderen Wertschätzung der Freiheit des Individuums. Die Freiheit, so sein zu können, wie man gerne sein möchte, ist doch für die meisten Anhänger der Schwarzen Szene ganz besonders wichtig. Und die Szene, wie sie derzeit in Deutschland existiert, wäre wohl kaum möglich ohne einen Staat, der gewisse individuelle Freiheitsrechte garantiert. Insofern versteht es sich meines Erachtens von selbst, dass die Szene zumindest so politisch sein sollte, dass sie sich von allen politischen Akteuren distanziert, die diese Freiheitsrechte – gemeinhin Grund- und Menschenrechte genannt – einschränken wollen. Dieser politische Minimalkonsens wird ja auch immer wieder von Szenevertretern verteidigt – zum Glück! Abgesehen von diesem Minimalkonsens ist es für mich völlig in Ordnung, wenn in der Szene politischer Pluralismus herrscht.
An Birte: Die Traumvorstellung, die du mit der Szene verknüpfst, finde ich sehr schön. Und zumindest in gewissen Teilen der Szene erfreut sich dieser humanistische Denkansatz doch großer Beliebtheit. Die Veranstaltungen, die zum Beispiel in den Räumen des VEID anlässlich des WGTs veranstaltet werden, sind in dieser Hinsicht doch vorbildlich. Ich denke, Aktionen dieser Art passen wundervoll zur Szene. Davon abgesehen: Kennst du Szeneanhänger*innen, die nicht tierlieb sind? Klar, natürlich gibt es die. Aber mir sind sie noch nicht begegnet. Ich denke, dass der Anteil von Tierfreund*innen in der Szene größer ist als in der Mehrheitsgesellschaft. Auch das ist ein ganz konkretes Element, das jenseits von Musik und Ästhetik Zusammenhalt erzeugt. Ich finde das wunderbar.
An Daniel: Ich denke, die Demo ist ein Schritt in die richtige Richtung. Mehr ist sie zum aktuellen Zeitpunkt sicher noch nicht. Man weiß eben nicht, ob sich daraus langfristig wirklich etwas mit Substanz entwickelt. Ich muss zugeben, dass ich diesen Punkt auch eher skeptisch sehe. Aber auch wenn es „nur“ eine Modeerscheinung gewesen sein sollte, wäre es ja immer noch besser als nichts. Vielleicht kann man ja an die Demo irgendwann anknüpfen. Nur vergessen sollte man diese Demo eben nicht. Denn Kämpfe, an die nicht erinnert wird, sind eben leider verlorene Kämpfe.
An Wiener Blut: Sicher, Aktionen dieser Art sind oftmals eine Art Ablasshandel für das gute Gewissen. Ich gebe zu, diese Demo in Leipzig war auch für mich eine Art Ablasshandel. Kurz vor der EU-Wahl war eine pro-europäische Demo in München – und leider habe ich es nicht dorthin geschafft. Deswegen war ich unzufrieden mit mir. Und da kam mir die Demo in Leipzig gerade recht. Ganz nach dem Motto: Dann bin ich zum Ausgleich eben bei einer anderen sinnvollen Polit-Aktion dabei. Und trotzdem: Ich finde einen derartigen Ablasshandel immer noch besser als gar nichts zu machen.
An PMc: Das eine schließt das andere ja nicht aus. Auch wenn man gelegentlich auf eine Demo geht, kann man sich ja trotzdem darum bemühen, im zwischenmenschlichen Umgang liebevoller miteinander umzugehen. Und falls jemand mit der politischen Aktionsform Demo nichts anfangen kann, gibt es ja vielleicht eine andere Form des Aktivismus, mit der er sich anfreunden kann.
Schön, dass du das gemacht hast, indem du dich hier für einen liebevolleren zwischenmenschlichen Umgang ausgesprochen hast.
An Robert: Du bringst es mal wieder auf den Punkt bzw. triffst ins Schwarze. Ich denke auch, dass zumindest ein Mindestmaß an Empfindsamkeit charakteristisch für die Szene ist bzw. dieses Mindestmaß sollte charakteristisch sein. Wer sich wie die Axt im Walde benimmt, passt nicht in die Szene. Das ist zumindest meine Meinung.
An Rosendorn: Es ist sehr wichtig, dass sich die „Gutmenschen“ immer wieder gegenseitig Mut machen! Es gibt leider sehr viele destruktive Menschen auf der Welt, da kann man mitunter wirklich fast verzweifeln. Doch erfreulicherweise hat es mit dem „sich gegenseitig Mut machen“ bei uns beiden schon mal ganz gut geklappt. Denn ich habe mich sehr darüber gefreut, dass mein Artikel bei dir eine heilsame Wirkung entfaltet hat.
An Svartur Nott: Ich finde alle deine Aussagen gut. Durch die Demo wurde ein Minimalkonsens zum Ausdruck gebracht. Mehr ist bei diesem Thema auch gar nicht nötig. So kann man ja auch besser zu Menschen durchdringen, die von diesen ganzen parteipolitischen Dingen nichts wissen wollen. Es gibt in fast allen politischen Milieus vernünftige Menschen – und genau diese Menschen sollten zusammenarbeiten.
Jetzt überfluten die Linksextremisten auch noch unsere Szene mit ihrer Propaganda und SJW scheiße. Mit ihren moralingesäuerten und vor allem geheuchelten Anspruchshaltung an andere Menschen. Und dann auch noch zum WGT! Wo ich einfach mal ein paar Tage meine Ruhe haben will von diesen ganzen Politikmist, mit der man sonst das ganze Jahr über terrorisiert wird. Ich bin dort, weil ich Musik hören und Freunde treffen will. Weil mein Leben eben nicht daraus besteht, mir von morgens bis abends den Kopf aufgrund von irgendwelchen extremen Ideologien zu zerbrechen und von Greta und Medien Panik eintrichtern zu lassen die sowieso nichts bringt. Und nein, ich gehe garnicht wählen. Weder AfD, Grüne, CDU oder sonst jemanden. Mir ist das einfach egal. Und ich fand es toll, dass es in der Gothic-Szene immer um andere Themen ging. Doch ihr macht diese Szene mit eurem Linksextremismus immer mehr kaputt. Bleibt ihr doch bitte einfach draußen, ja?
Lieber Stefan Kubon,
gewiß gibt es Shitstorms gegen eine solche Demo, das sollte eigentlich nicht verwundern – viele Menschen, und gerade auch viele Grufties sind es leid, sich ein schlechtes Gewissen machen zu lassen. Diese Freiheit, nicht gemaßregelt zu werden, nicht gesagt zu bekommen was sich schickt und was man tun darf und was man anziehen darf und was man denken darf und was nicht noch alles, das ist doch ein ganz Wesentliches in der Szene. Und es macht auch niemandem Freude, gesagt zu bekommen, du bist schlecht (weil du Fleisch isst, weil du ein Auto hast, weil weissderteufel…)
Ich finde es auch nicht recht glücklich, wenn Du diese -mMn ganz verständliche- Ablehnung und Abwehr in die Schublade „Konservative“ steckst und allerlei schlimme Klischees daran festmachst. Denn das kann man auch wieder zusammenfassen zu: du bist schlecht…
Ich denke, niemand will das hören, und wenigen ist damit geholfen. Lange vor den Grufties gab es mal einen Song, „all you need is love“, und das stimmt vielleicht immer noch: höchstwahrscheinlich brauchen wir den ganzen Konsum und die ganze Ausbeutung in Wirklichkeit für gar nix – aber wir brauchen eben doch etwas: Anerkennung, Wertschätzung, Verständnis – und NICHT nur den Hinweis darauf was wir alles falsch machen und wie schlecht wir sind.
Du meinst, das eine schliesst das andere nicht aus. Ich denke, doch – denn, wenn ich auf eine Demo gehe, dann drücke ich damit den Anspruch aus, anderen etwas aufzuzeigen, anderen etwas zu sagen zu haben. Und das impliziert, dass ich etwas besser weiss, dass ich mich in diesem Sinne über die anderen erhebe – genauso wie ein Lehrer seinen Schülern etwas zu sagen hat. Und für mich ist da schon ein markanter Unterschied, ob ich den Anderen so akzeptiere wie er ist (das ist wohl die Voraussetzung von Liebe) oder ob ich ihm sagen will was er zu bedenken oder sich zu kümmern oder wofür er sich zu engagieren hat.
Dazuhin, ich möchte das auch nicht beanspruchen. Ich hab kein Auto, mein Fahrrad ist 25 Jahre alt, mein Computer aus 15 Jahre alten Schrotteilen (zu schade zum Wegschmeisse), aber ich möchte mir doch nicht anmaßen, öffentlich aufzutreten mit den Anspruch, irgendetwas besser zu wissen.
Und dann ist das auch eine Falle: wenn man einmal damit beginnt, sich in diese Rolle zu begeben, wo man anderen etwas aufzeigen will, dann wird man daran gemessen und dann darf man keine Fehler mehr machen. Die meisten Politiker sind in dieser Falle: sie können es niemals riskieren, Fehler zuzugeben, weil dann ihr Anspruch, anderen etwas zu sagen zu haben, fraglich wird: schuld müssen immer die anderen sein. Im grunde sind sie arme Wichte, die in einer Rolle stecken, aus der sie nicht mehr herauskommen.
Das meinte ich mit meiner Bemerkung, dass die Politik jeden korrumpiert.
Wollen wir wirklich so enden?
Mein Guru hat mir mal gesagt: erst heilst du dich selbst, dann deine Nächsten, und dann die Welt. Beim Demonstrieren läuft es aber umgekehrt, da will man erst mal alle anderen mobilisieren – noch bevor man weiss was denn nun genau zu tun ist. Ich glaub nicht dass das funktionieren kann. Ich jedenfalls bin noch mit den Nächsten beschäftgt. ;)
@lady: wo bitte wird denn diese „linksextreme“ Propaganda (was meinst du damit konkret?) in der Schwarzen Szene verbreitet? Und wo siehst du diese „social justice warriors? Ich meine alles andere als blind und taub zu sein, doch sehe ich bei quasi allem, was ich so an Szene-medien wahrnehme (egal ob Musik, Literatur, Film, Nachrichten/Blogbeiträge, Social media-Zeugs,…) keine „linksextreme“ Agenda, geschweige rechthaberisches Verhalten. Im Gegenteil, eher – selbst im Vergleich zur alltäglichen Welt – in Summe zurückhaltendere, ruhigere, subtilere, thematisch fokussiertere Aussagen oder Fragen. Das beginnt mit den Botschaften der Künstler und endet nicht zuletzt bei dem eigenen Abstraktionsvermögen & -Verhalten der Rezipienten.
Was jetzt bei einem Trauermarsch für all die ausradierten Arten ideologisch aufoktroiert sein soll, erschließt sich mir zudem nicht. Was genau daran ist jetzt Ideologie oder in anderen Worten: Was genau ist daran ein vorgestricktes Gedankengerüst?
Natürlich kann man fragen: „Warum passiert so eine Demo erst jetzt, wo schon so viele Arten den Abfluss der Geschichte vorsätzlich hinuntergespült worden sind?“. Potentielle Antworten darauf wird es jedoch viele geben, und auch da darf sich letztlich jeder an die eigene Nase fassen.
Und nur, weil jetzt mal ein (eigentlich seit Beginn der Menschheitsgeschichte) aktuelles Thema von Teilen der Schwarzen Szene wiedergespiegelt wurde, sehe ich jetzt nicht, dass sich dies jetzt auf andere, in der Politik und Gesellschaft diskutierte Themenbereiche übergreifen wird. Diesbezüglich haben die Schwarzen durchaus ihre eigenen Prioritäten. Und das ist auch gut so.
Weiß zufällig jemand, ob bezüglich des Leichentreffs auch so ein Geschisse gemacht wurde? Das Motto bei deren Veranstaltung war nämlich sehr ähnlich.
Wer meint, das WGT sei politfrei, hat den Knall nicht gehört. Oswald Henke ist von Anfang an dabei und hatte auch damals schon politische Themen in Texten verarbeitet.
1993:
Goethes Erben – Die Brut
In der Agra begegnen einen Aufnäher, Sticker und Buttons gegen Nazis. Außerdem sehen sich die Veranstalter immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, rechts angehauchte Bands auftreten zu lassen. Die merkwürdig Uniformierten nicht zu vergessen.
~~~
Ursprünglich hatte ich den Trauermarsch eingeplant, aber wie so oft taugt meine Planung kaum zum Umsetzen und so war ich froh, dass ich mich, obwohl verspätet, noch spontan dem Tauermarsch anschließen konnte, als dieser meinen Weg zum Spontistreffen, an den Höfen am Brühl kreuzte. Wie Birte bereits schrieb, war es ein sehr bewegendes Erlebnis. Erst ließ ich die schwarz gekleideten Menschen im Rhythmus der klagenden Trommel an mir vorüberziehen, dann reihte ich mich ein und ging den kurzen Weg zum Bahnhof mit.
Meine Motivation an dem Trauermarsch teilzunehmen war nicht, andere auf ihr Fehlverhalten aufmerksam zu machen. Ich selbst bin schließlich nicht perfekt. Obgleich ich bereits sehr viel in meinem Leben zugunsten der Umwelt ändern konnte, nehme ich einen gewissen Luxus weiterhin in Anspruch. Mir ging es tatsächlich um die Trauer des Unwiederbringlichen. Den gemeinsamen Geist, der die Schwarzen während des Marsches umfing, habe ich so bei Konzerten oder Lesungen noch nicht spüren können.
Gabrielle : Die Bühne war in der Tat immer schon politischer als die Szene selbst. Neben Oswald Henke hat auch Bruno Kramm zu Wahlkampfzeiten einen Stand der Piratenpartei vor der AGRA betreut. Bei der Szene bin ich mir allerdings nicht so sicher, was Deine Einschätzung angeht.
Aufnäher gegen Nazis und Proteste (Broschüre) gegen rechts angehauchte Bands würde ich nicht als politische Agenda werten, sondern als Widerstand gegen eine Vereinnahmung.
Mit „unpolitisch“ ist dann auch viel mehr gemeint, dass die Szene sich noch nie wirklich auf eine Seite gestellt hat. Weder Rechts noch Links. Die Themen der Szene betreffen dann auch hauptsächlich ästhetische Fragen, morbide Interessen oder gemeinsame Neugier an gruseligen Dingen, weniger politische Fragen. Das heißt natürlich nicht, dass das Individuum keine politische Haltung hat, nur als Szeneinhalt kann ich Politik nicht erkennen.
Wenn jetzt die Szene einen Protestmarsch ins Leben ruft, der tatsächlich einen echten Protest gegen Mißstände beinhaltet, empfinde ich das tatsächlich als Neuland. Verstehe mich nicht falsch, das ist völlig Wertungsfrei. Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich das gut oder schlecht finden soll. Was ist der nächste Protest? Oder werden sich Gruftis im Rahmen des WGT für eine Partei oder gegen eine Politik demonstrieren?
Zu den Leichwagen möchte ich dann doch eine ganz persönliche Meinung kundtun: Ich finde die Aktion natürlich spaßig und wirklich gelungen, aber der inhaltliche Hintergrund (das Motto) ist meiner Meinung nach an der Haaren herbeigezogen, um den Autokonvoi als Demonstration genehmigt zu bekommen. Was hat die Würde des Lebens und die des Sterbens mit Leichenwagen zu tun? Der Leichenwagen kommt nach diesen Ergeignissen. Für mich ein Show&Shine Treffen, um seine Schätzchen mit anderen zu teilen und es zu zeigen.
Lieber PMc,
ich kann es sehr gut verstehen, dass Menschen nicht belehrt werden wollen.
Ich empfinde es auch als sehr unsympathisch, wenn jemand den Eindruck vermittelt, er sei anderen Menschen überlegen. Eben dieses Verhalten nach dem Motto „Du kleiner dummer Junge, ich erkläre dir jetzt mal die Welt!“.
Ich denke, bei dieser Thematik ist der folgende Punkt beachtenswert: Was ein Mensch als arrogante Belehrung wahrnimmt, liegt letztlich immer im Auge des Betrachters. Ich bin zum Glück gar nicht in der Lage dazu, deinen Kommentar als arrogante Belehrung wahrzunehmen, weil ich Grund für die Annahme habe, dass uns beide – trotz einer partiellen Meinungsverschiedenheit – ein elementarer ethischer Konsens verbindet.
Hingegen gibt es sicher viele Zeitgenossen, die empfinden es bereits als eine Provokation bzw. eine arrogante Belehrung, wenn jemand für mehr Liebe in der Gesellschaft plädiert. Und das hast du ja auch getan, indem du hier in diesem Blog deine Meinung öffentlich kundgetan hast. Ich finde das sehr gut, Leute wie du melden sich leider in unserer Gesellschaft viel zu wenig zu Wort.
Gerade die Botschaft der Liebe empfinden doch viele Menschen als eine riesige Provokation. Unzählige Menschen werden nur deshalb gehasst, weil sie diese Botschaft in die Welt tragen. Und unzählige Menschen wurden wegen dieser Botschaft verhöhnt, eingesperrt, gefoltert und ermordet.
Im Übrigen: Ist nicht die Schwarze Szene für viele Normalos eine Provokation bzw. eine arrogante Belehrung? Speziell für Menschen, die ständig bemüht sind, die Schattenseiten des Daseins (Tod, Schmerz, Vergänglichkeit usw.) zu verdrängen, ist sie das sicherlich. Aber ich weiß natürlich nicht, wie du in der Öffentlichkeit auftrittst. Wenn du einfach nur schwarze Klamotten trägst, würde dieser Aspekt ja eher nicht auf dich zutreffen. Doch auf manche Szenemitglieder trifft dieser Aspekt sicherlich zu. Zumindest Szenemitglieder, deren Outfits von Todessymbolen geprägt sind, werden vermutlich von einem leidenschaftlichen Vertreter der Spaßgesellschaft als eine unzumutbare „arrogante Belehrung“ empfunden. Ich denke, du siehst schon, worauf ich hinaus will. Letztlich ist das alles eben sehr subjektiv.
Im Übrigen hast du sicherlich recht: Viele Menschen sind (leider) sehr stark darauf fixiert, von ihren Mitmenschen möglichst viel Anerkennung zu bekommen. Die Droge Wichtigkeit ist ein sehr großes Problem in unserer Gesellschaft. Der Mangel an Liebe und Respekt ist leider allgegenwärtig. Ich denke auch, dass viele Menschen diesem ganzen materiellen Schnickschnack nur deshalb hinterherrennen, weil sie ernsthaft glauben, wenn sie diesen ganzen Kram präsentieren können, werden sie mehr respektiert bzw. geliebt. Daher finde ich es auch super, wenn du dafür eintrittst, dass sich die Menschen gegenseitig mehr wertschätzen und in ihrer Verschiedenheit akzeptieren sollten – ganz unabhängig von materiellen Besitztümern.
Und natürlich ist es richtig, dass man bei jeder politischen Veränderung, die man sich wünscht, zuallererst bei sich selbst anfangen sollte.
Doch bei diesem ganzen Plädoyer für mehr Liebe und Verständnis gibt es meines Erachtens ein Problem: Wie gehst du mit Leuten um, die für Liebe und Mitgefühl sehr wenig übrig haben? Wie begegnet man dem Bösen in der Welt? Man kann diesen spezifischen Schattenseiten des Daseins natürlich ausschließlich mit Liebe begegnen. Allerdings wird man manche Bösewichte allein damit nicht stoppen können. Letztlich denke ich, jeder sollte für sich selbst entscheiden, wie er mit diesen Schattenseiten des Lebens umgeht.
Kein Zweifel: Ich bin der Überzeugung, dass es Menschen gibt, deren Taten schlimm sind. Und ich finde, diesen Menschen muss man dies auch sagen. Denn Schweigen könnte von diesen Zeitgenossen fälschlicherweise als Zustimmung interpretiert werden. Wie man diese Menschen dann letztlich nennt, ist mir eigentlich eher gleichgültig. Ich bin weit davon entfernt, konservative Menschen pauschal an den Pranger zu stellen. Selbstverständlich gibt es auch sehr viele Konservative, die sehr respektable Menschen sind. Ich glaube, dass du mich da irgendwie falsch verstanden hast. Ich meinte Leute, die sich als Konservative inszenieren, obgleich sie im Grunde vor allem Wohlstandschauvinisten sind. Genau diese Menschen meinte ich, keine anderen. Und das Anliegen des Trauermarsches würde ich sogar rundum als ein konservatives Anliegen interpretieren. Ich denke, mit der klassischen Links-Rechts-Dichotomie hat das eigentlich eher wenig zu tun.
Dass du dich so gut in die Menschen einfühlen kannst, die dem Trauermarsch für aussterbende Arten mit Hass begegnen, zeichnet dich aus. Ich meine das keinesfalls ironisch! Allerdings muss ich zugeben, dass sich mein Verständnis für diese Menschen in Grenzen hält. Denn ich kann es wirklich nur schwer begreifen, warum man Menschen mit Hass überzieht, die sich für den Erhalt des Regenwalds oder für den Schutz bedrohter Tierarten einsetzen. Dieses Verhalten ist einfach falsch. Auch weil es schlichtweg eine unverhältnismäßige Reaktion ist.
Ich habe Verständnis dafür, wenn jemand keine Demos mag. Und ich habe auch noch ein gewisses Verständnis dafür, wenn jemand die Ansicht vertritt, dass er das Anliegen des Trauermarsches irgendwie überzogen findet. Das sind alles Punkte, über die man diskutieren kann. Aber auf einen derartigen Trauermarsch mit Hass zu reagieren, das ist einfach ziemlich absurd.
Wie gesagt: Mein Verständnis für derart hassgesteuerte Menschen ist begrenzt. Sicher, ich kann mir noch vorstellen, dass diese Menschen irgendeinen Frust oder Kummer, den sie in ihrem Leben mit sich herumschleppen müssen, auf diese Demo projizieren. Weil man sich gegen die wirklichen Zumutungen des Lebens nicht wehren kann, drischt man dann eben verbal auf 1500 friedliche Gruftis ein. Quasi als Kompensation. Aber letztlich ist ein derartiges Verhalten dann schon auch ein charakterliches Problem. Denn es gibt so viele Menschen, denen wirklich grauenvolle Dinge widerfahren – aber trotzdem bleiben sie liebenswerte Zeitgenossen. Und andere müssen „nur“ einen relativ leichten Schicksalsschlag erdulden und werden zu wahren Menschenfeinden.
Wobei es natürlich auch wieder jeder Mensch ganz subjektiv wahrnimmt, was ein wirklich schwerer Schicksalsschlag ist. Das ist mir schon klar. Letztlich sehe ich das alles auch eher fatalistisch. Die Möglichkeiten, dass sich ein Mensch quasi selbst erfindet, sind meines Erachtens sehr begrenzt. Und das Tragische der Welt ist eben leider, dass jeder einen Grund für sein Tun hat.
Auf jeden Fall freue ich mich darüber, dass es diesen Blog gibt, auf dem man sich so gut austauschen kann. Und ich wünsche dir noch viel Erfolg bei der Suche nach spiritueller Erleuchtung! Möglicherweise bist du dabei schon einen Schritt weiter als ich.
Ansonsten freue ich mich heute Nacht darüber, dass Carola Rackete
freigelassen wurde.
Viele herzliche Grüße von Stefan
Lieber Stefan,
ja, Du hast recht, viele Menschen werden wütend, wenn man sie an Dinge erinnert, die sie selber verdrängen. Und gerade das Thema Tod ist in unserer Gesellschaft eines der meistverdrängten (das war nicht überall so), und da kann ich mir gut vorstellen, dass manche sich vom Schwarzen Völkchen und seinen Tabubrüchen provoziert fühlen. Zum Glück habe ich noch niemand in der Szene gesehen, der irgendwie missionieren wollte, sondern es läuft immer nach der Devise: lasst uns in ruhe, und wir lassen euch in ruhe. Das ist schön, denn auf diese Weise ist die Szene ein Angebot an Menschen wie zB mich, die sich wohler fühlen in einem Umfeld, wo man nicht dauernd über Tabus stolpert – und wer das nicht sucht, der braucht sich nicht weiter drum zu bekümmern.
Mit der Liebe verhält es sich ähnlich, aber schwieriger – denn hier ist bereits der Begriff belastet von allerlei Missionaren, und viel Mißbrauch ist passiert. Während der Tod im grunde ehrlich ist (niemand kann ihm entgehen), kann man Liebe auf fast jede erdenkliche Art verbiegen; und ich kann verstehen, wenn Menschen darauf ablehnend reagieren (es macht mich halt traurig), doch im grunde sind beides, Liebe und Tod, zwei Seiten derselben Medaille.
Du fragst, wie man mit dem „Bösen“ umgeht. Tja, ich kann da nur für mich sprechen: ich glaube nicht an „das Böse“ – und so sehr ich auch danach suchte, ich konnte es nirgens finden. Ich glaube nicht, dass es „das Böse in der Welt“ wirklich gibt, ausser in unseren Köpfen.
Ich will mich jetzt nicht in Metaphysik versteigen, in Hexen- und Teufelsglaube und dergleichen. Nehmen wir stattdessen zwei Menschen, von denen uns jeden Tag gesagt wird, dass sie „böse“ sind: der russische und der amerikanische Präsident.
Putin hat es über Jahre hinweg geschafft, Russland in halbwegs geordneten Verhältnissen zusammenzuhalten, und ich denke, nur einer wie Putin konnte das schaffen. Was passiert, sobald man ein solches Land nicht zusammenhält, as haben wir schon im kleinen in Jugoslawien gesehen: dann zerfällt es in unzählige Fraktionen, die sich gegenseitig mit gräßlichen Kriegen überziehen – und natürlich gibt es dann Kräfte, die ihren opportunistischen Vorteil in diesen Kriegen suchen, und es gibt auch einige, die aus diesem Grund für Rußland ein solches Schicksal erstreben. Ist es also „böse“, was Putin tut – oder ist es vielleicht eher das einzige sinnvolle, was er überhaupt tun kann?
Und der Donald – nun, der ist ein Lump. Aber waren nicht fast alle seiner Vorgänger ebensolche Lumpen, die sich lediglich mehr bemüht haben, gut und gefällig zu lügen? Und, hätte denn irgendjemand, der kein Lump ist, überhaupt eine Chance, in diese Position zu kommen?
Ich finde, wenn man sich mal wirklich in die Situation jener Menschen hineinversetzt, die angeblich etwas falsch machen, und realistisch schaut, welche Möglichkeiten sie überhaupt haben (und welche Konsequenzen das hätte), dann mag sich herausstellen, dass sie entweder kaum andere Möglichkeiten haben, oder aber schlicht nichts anderes tun als alle anderen auch. Vielleicht sind wir dann im grunde allesamt „böse“?
Ein anderes Beispiel: der angebliche Klimawandel (der auch das Artensterben bewirkt). Der Fehler ist dabei nicht, dass es diesen Klimawandel gar nicht gäbe (wie manche behaupten), sondern dass er mißbraucht wird. Der Fehler ist auch nicht, dass wir zu viel CO2 erzeugen (denn CO2 ist kein Gift, sondern das ganz normale Ergebnis, wenn man Kohlenstoff verbrennt), sondern dass wir Bodenschätze verbrennen: dass wir eine Reserve, einen Notgroschen, der über Jahrmillionen angelegt wurde, einfach so mal eben (in erdgeschichtlichen Zeitmaßstäben) verbrennen. Das aber hätte vor 50 Jahren klarwerden müssen.
Wir wissen nicht, was mit dem Klima passieren wird; niemand weiss das. Was wir aber wissen, ist, dass es eine Zeit lang dauert, etliche Jahre, vielleicht Jahrzehnte, bis das Klima sich in eine neue Balance findet. Es kann also durchaus sein, dass das, was wir heute sehen, die Folge dessen ist, was wir vor 50 Jahren verheizt haben, und dass die Auswirkungen dessen, was wir heute verheizen, sich erst in 50 Jahren manifestieren werden.
Kaum wird das jemand so sagen, weil es als Panikmache gewertet würde, aber ausgeschlossen ist es auch nicht. Dann aber haben wir ganz andere Probleme, als dass wir uns über das Böse gedanken zu machen bräuchten.
Und der Grund, warum heute der sog. „Klimaschutz“ in aller Munde ist, ist auch keineswegs, dass man irgendwie erkannt hätte, dass es scheisse ist, Öl und Gas zu verheizen (davon wird nicht geredet, im Gegenteil, Gas ist ja angeblich die „klimafreundliche“ Lösung – geredet wird nur von CO2, das angeblich das Problem sei), sondern dass die Elektroautos und die Windmühlen inzwischen marktreif sind, dass man die also verkaufen und gut daran verdienen kann. (Und an Öl und Gas will man natürlich auch weiter verdienen.)
Was die Demonstration betrifft: ich versuche mich in beide Seiten hineinzuversetzen: die die demonstrieren, und die, die die Demonstrationen wütend machen; und dann sehe ich überhaupt keinen Unterschied zwischen beiden: beide gleichermaßen stecken in ihren Denkmustern fest und sind nicht fähig oder nicht gewillt, über ihren jeweiligen Tellerrand hinauszugucken. Beiden gleichermaßen ist zu eigen, dass sie alles Schlechte nur bei der jeweils anderen Seite zu sehen vermögen – und auch den Hass findet man auf beiden Seiten (vielleicht nicht beim Schwarzen Volk, aber insgesamt).
Und schließlich: ja, Carola Rackete ist frei, der einträgliche Menschenhandel kann also jetzt unter Volldampf weitergehen. Und was ist das gute daran? Dass die Tatkräftigen und Entschlossenen aus ihren Heimatländern abwandern und dort nur die Armen und Hilflosen zurücklassen, die kaum etwas bewegen können? Dass sie in Länder migrieren, in denen sie nicht wirklich gebraucht werden, kaum etwas sinnvolles tun können, kulturell entwurzelt leben und die neue Kultur auch kaum verstehen oder wertschätzen? Dass darüber mittelfristig die europäische Kultur, also der Humanismus, in Beliebigkeit und Wertlosigkeit (im Sinne von: ohne gelebte Werte) auflösen wird und, da es eine Gesellschaft ohne Werte nicht geben kann, sich letztlich die stärkste Gruppe mit ihren Werten durchsetzen wird (das ist der Islam)?
Nichts davon scheint mir sonderlich vielversprechend – der einzige Gewinn scheint mir zu sein, dass eine Millionärstochter, deren unbeschwerte Jugend aus Waffenexporten finanziert wurde, ihr ganz persönliches Gewissen beruhigen konnte in dem Bewusstsein, etwas „Gutes“ getan zu haben – und das auch nur in typisch selbstdarstellerischer Manier, gesponsort von anderen, und ohne irgendeine Verantwortung für die Folgen zu übernehmen; sondern nur, um, wie Du sagst, „von den Mitmenschen möglichst viel Anerkennung zu bekommen“.
Und mit einigen Demonstrationsteilnehmern mag es sich dahingehend ähnlich verhalten. Das ist auch gar nichts ungewöhnliches: ich habe verschiedentlich vor Ort mit sog. Entwicklungshelfern im Einsatz gesprochen – und da wurde recht offen eingestanden, dass ihre Hauptaufgabe nicht so sehr ist, den Leuten vor Ort zu helfen (oft können sie das gar nicht), sondern vielmehr, ein Bedürfnis zu befriedigen: genauso, wie Menschen hier das Bedürfnis haben, einen Hamburger zu essen, oder das Bedürfnis haben, sich ein Smartphone zu kaufen, haben sie auch das Bedürfnis, ihr Gewissen zu erleichtern indem sie für etwas spenden. Diesen Bedarf zu decken, ist die Hauptaufgabe von Hilfsorganisationen – und die Nachfrage danach wird medial auf denselben Werbeflächen gefördert wie die nach Hamburgern und Smartphones. Und genauso wie der Burger-Konsument nicht gern hören mag welche Belastungen die Viehzucht mit sich bringt, und der Handynutzer ungern über den kaum wiederaufzubereitenden Elektroschrott nachdenken mag, will auch der Spendenwillige kaum wirklich wissen welche Schieflagen seine Gewissensberuhigung nach sich zieht.
Ich verstehe, dass man nicht über den Tellerrand schauen mag – denn was man da zu sehen bekommt, ist oft nicht sonderlich schön. Das ist so ähnlich wie mit Neo in der Matrix: die Welt, in die er aufgewacht ist, ist nicht besonders schön – aber wäre das ein Grund, um lieber weiter zu träumen?
Lieber PMc,
danke für deine Antwort.
Das, was du über das Böse sagst, erinnert mich an eine Sichtweise, die der Weisheitslehrer Eckhart Tolle vertritt (na ja, es gibt sicher unzählige andere Denker, die ebenfalls diese Sichtweise vertreten). Wenn ich mich richtig erinnere, dann sagt Tolle, dass die Dinge, die wir erleben, von uns nur deshalb als gut oder böse wahrgenommen werden, weil wir sie entsprechend interpretieren. Damit mag er ja Recht haben, dennoch meine ich, dass die Möglichkeiten für uns Menschen leider sehr begrenzt sind, Dinge, die wir als böse wahrnehmen, in etwas Positives umzugestalten. Das heißt, das „Böse“ bleibt in den meisten Fällen eben doch bestehen, auch wenn es sich „nur“ noch in unserem Kopf abspielt.
An Tolle hat mich eigentlich vor allem fasziniert, dass seine spirituelle Lehre nach meinem Kenntnisstand nicht unerheblich daran beteiligt war, dass sich die Band Anathema von einer depressiv klingenden Metal-Band zu einer relativ frohgemut musizierenden Alternativ-Rock-Band entwickelt hat. Ob das in künstlerischer Hinsicht wirklich eine positive Entwicklung war, darüber kann man sich natürlich streiten. Aber natürlich freue ich mich für die Band, wenn es ihr mit dieser Entwicklung gut geht.
Und zur Frage, ob es quasi nur „Lumpen“ möglich ist, ein politisches Spitzenamt zu erreichen: Klar, bis zu einem gewissen Grad wird sich jeder Mensch, der ein solches Amt erreicht hat, die Hände schmutzig gemacht haben. Ich für meinen Teil bin aber froh, dass es Menschen gibt, die sich dafür nicht zu schade sind. Damit meine ich natürlich ganz spezielle Menschen. Zum Beispiel Václav Havel oder Nelson Mandela. Speziell Mandela hat ja gezeigt, dass es gewisse Methoden gibt, ein Land vor dem Bürgerkrieg zu bewahren, die besser sind als andere. Und die Methoden, die Putin verwendet, finde ich wirklich nicht „gut“. Wobei mir klar ist, dass man die Verhältnisse von Südafrika nur sehr bedingt auf Russland übertragen kann.
Und zu Carola Rackete: Natürlich wäre es nicht sinnvoll, wenn alle Verfolgten der Welt nach Europa kommen würden. Aber ich denke, es ist eben auch nicht akzeptabel, Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Mir geht es bei der Flüchtlingsproblematik nicht zuletzt darum, dass das Ertrinken im Mittelmeer als Problem wahrgenommen wird. Mit welchen Mitteln man versucht, dieses Problem zu lösen (oder zumindest einzudämmen), darüber kann man ja diskutieren. Natürlich ist es sehr gut, wenn man versucht, die Fluchtursachen in den betreffenden Ländern zu beseitigen.
Und gerade angesichts des Ertrinkens von Menschen im Mittelmeer zeigt sich ja auch, dass die folgende Betrachtungsweise nicht zutrifft: In Europa leben die humanistischen Menschenfreunde und im arabischen Raum leben die unzivilisierten Moslems. Ich persönlich nehme das Erstarken des Rechtspopulismus als eine relativ große Gefahr für die humanistische Identität Europas wahr. Hingegen nehme ich die Flüchtlinge, die bislang in Europa Unterschlupf gefunden haben, als eine relativ kleine Gefahr für die humanistische Identität Europas wahr. Und zwar aus einem einfachen Grund: Die Rechtspopulisten sind durch einige spezifische weltanschauliche Positionen miteinander verbunden, die eine Gefahr für die humanistische Identität Europas darstellen. Und genau dies ist eben bei den Flüchtlingen keineswegs der Fall. Bei den Flüchtlingen gibt es hinsichtlich der Weltanschauung, der Moral und des Charakters äußerst verschiedene Menschen (der Islam bildet ja ebenso wenig eine Einheit wie das Christentum). Daher haben es meines Erachtens insbesondere diese Menschen verdient, dass man sie als Individuen betrachtet. Natürlich hat es auch jeder Rechtspopulist verdient, dass man ihn als Individuum betrachtet. Natürlich sind auch diese Menschen nicht alle gleich. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein Rechtspopulist die humanistische Identität Europas bedroht, ist einfach viel größer als die Gefahr, dass dies ein Flüchtling tut.
Ich wertschätze viele Sichtweisen des Theologen Hans Küng sehr. Sein Projekt Weltethos finde ich wundervoll. Was wir Menschen wirklich brauchen, sind doch Brückenbauer. Brückenbauer zwischen den verschiedenen Kulturen und Religionen. Und Brückenbauer zwischen den
verschiedenen weltanschaulichen Ausprägungen der Schwarzen Szene brauchen wir doch auch. Ich vermute stark, dass du dafür besser geeignet bist als ich. :wink:
Hallo lieber Stefan,
da hst Du mir ja einiges zum Denken gegeben – danke dafür! :)
Eckhart Tolle sagt mir, muss ich gestehen, ausser dass ich vielleicht mal den Namen gehört hab, gar nichts. Er scheint aber aus ähnlichen Quellen zu schöpfen. Mein Hintergrund, mal ganz grob zusammengefasst, ist weitgehend selber zusammengekramt aus Quellen des Taoismus, ein bischen was aus dem Buddhismus, dem gnostischen Urchristentum, ein paar Zutaten aus der paganen Szene, und eine gute Portion Thelema (die geheimnisumwitterte Weltanschauung des [in]famosen Aleister Crowley ;) ), dazu ein paar Grenzerfahrungen, und das ganze gründlich gären lassen… Da gehöre ich ganz sicher nicht zur Licht+Liebe Fraktion und will auch nicht unbedingt die Welt retten, sondern ich finde einfach das Potential, das in unserem Bewusstsein steckt (wenn man es denn mal ansatzweise nutzen würde) unglaublich genial und wundervoll – die Schöpfung ist etwas so wahnsinnig phantastisches und brilliantes, dass man sich wohl Jahrhunderte lang damit beschäftigen könnte, die Möglichkeiten zu erkunden. Ich bin da nicht der Heiler oder Retter, sondern eher der Ingenieur, der sagt, Wow, was für ein genial phantastisches Design – ach, wenn die Menschen sich doch nur die Mühe machen würden, es sinnvoll zu nutzen!
Klar, diese Weisheit, dass das Böse in unserer Interpretation liegt, nützt einem wenig, denn davon ändert sich noch nichts: weder verschwindet das Böse, noch kriegen wir ein Handwerkzeug um unsere Interpretation zu verändern. Und der erstere Ansatz, das Böse in der Welt beheben zu wollen, davon rate ich ab: das hat Jesus versucht, und dann gab es Kreuzzüge, Hexenverbrennungen, Kolonialisierung, … das klappt meistens nicht so wie vorgesehen. :(
Der andere Ansatz ist die Selbsterforschung: also dass man rausfindet, wie man selber eigentlich „programmiert“ ist, und warum man gut und böse so interpretiert wie man es eben tut. Und dann diese „Programmierung“ auch zu verändern lernt. Das geht durchaus, dabei kann auch nix allzu schlimmes passieren, weil man ja nur an sich selber rumbastelt – und man lernt dabei, Andersdenkende besser zu verstehen. Es ist aber eine mitunter mühsame und anstrengende Angelegenheit.
Ob nun Russland oder Südafrika besser ist – als ich in Südafrika gelandet bin und nach dem Weg zur nächsten Bushaltestelle gefragt hab, hat man mir klipp und klar gesagt, dass ich das gar nicht versuchen brauche, weil ich als Weißer nicht lebend bis zur Bushaltestelle komme. (Ansonsten fahre ich grundsätzlich mit dem gewöhnlichen public transport vom Flughafen und nicht mit den shuttle-services, um gleich einen authentischen Eindruck von den normalen Leuten zu kriegen und mich unter sie zu mischen.) Vielleicht ist das ja auch so eine Geschichte wie eben mit Jesus.
Die Migranten: bei den tatsächlich Verfolgten habe ich gar keine Bedenken; wenn die nach Europa wollen, dann ist da Platz für sie. Aber es gibt ja auch die andere Ansicht, dass es gar keine Grenzen geben dürfe, und dass jeder, egal ob verfolgt, dahin gehen kann wohin er eben will – eine nette Idee, aber da sehe ich nicht wie das konkret gehen könnte.
Dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, wäre für mich nur dann nicht akzeptabel, wenn diese Menschen ohne eigenes Verschulden ins Mittelmeer geraten sind. Wenn aber ein erwachsener Mensch, Herr seiner Sinne, sich aus eigenem Entschluss in Gefahr begibt, dann ist das dessen eigene Verantwortung.
Bei den Chinesen gibt es eine Weisheit, die sagt: wenn du einen Menschen rettest, dann bist du den rest deines Lebens für dessen Taten verantwortlich. Ganz logisch, weil die gäbe es ja nicht wenn du ihn nicht gerettet hättest.
Ich mag die fernöstliche Weltanschauung, weil sie in vielen Dingen klarer und stringenter ist als unsere – zB was Verantwortung angeht. Um dieses Ding ganz zu erfassen, gehört aber noch was dazu: Wir hier im westlichen Abendland haben eine riesen scheiss Angst vor dem Tod. (Deswegen wird er im allgemeinen auch fast völlig verdrängt.) Weil nämlich nach dem Tod ganz unweigerlich diese schreckliche „Hölle“ kommt, in der wir alle landen weil wir ja alle Sünder sind. Dass das ganze nur ein blödes kirchliches Ammenmärchen ist, hilft nix: nach 1500 Jahren Dauerberieselung sitzt es zu tief im Unbewussten. Und deswegen ist „Leben retten“ ein Grund für sich, der alles andere zu rechtfertigen scheint und selber keinerlei Rechtfertigung braucht und keine Frage nach Verantwortung stellt.
Das ist in anderen Kulturen ganz anders. Natürlich werden überall Leben gerettet, wenn immer es möglich ist – aber meistens wird der Tod als ein normaler Begleiter gesehen, der einen jederzeit holen kann. In Indonesien fällt jedes Jahr ein Flugzeug ins Meer (weiss nicht ob immer noch, seit Merpati pleite ist) – die Leute fliegen dennoch. Wenn man gläubig ist, betet man, und ansonsten gilt: In sha‘ Allah – so Gott will, wird man lebend ankommen. Man fügt sich ins Schicksal, und macht keine Aufstände um mit immer noch mehr „Sicherheit“ etwas zu erzwingen, was man im Grunde doch nicht beeinflussen kann.
Und ich für meinen Teil habs genossen: es macht das Leben einfacher, man braucht nicht mehr so viel verdrängen, und man braucht sich nicht dauernd um Sicherheitsvorschriften kümmern, weils keine gibt.
Kurzum, das, was die Migranten machen, kann man nur mit uns Westeuropäern machen: „ich begebe mich in Seenot, und du musst mich jetzt retten, weil sonst sterbe ich ja.“ Das ist nichts anderes als eine verschärfte Form von: „Wenn du nicht tust was ich will, dann bringe ich mich um.“ Das ist emotionale Erpressung, und für Erpressung hab ich nun gar kein Verständnis.
Jetzt kann man allerdings sagen, moment mal, wenn die Flüchtlinge sich auf eine so gefährliche Überfahrt wagen, dann zeigt doch allein das schon deutlich, dass sie aus höchster Not flüchten, denn sonst würden sie das gewiss nicht machen.
Das unterstellt aber auch genau dieses westliche Denken, wo der Tod als das Schrecklichste überhaupt gesehen und alles zu seiner Vermeidung getan wird – und das ist fast nirgendwo sonst so. Der steinzeitliche Jäger wusste genau: entweder er kriegt die Wildsau, oder die Wildsau kriegt ihn. Auch der Samurai wusste von vorneherein, wenn er Pech hat und die Operation ungünstig verläuft, muss er Harakiri machen. Der Tod ist eine einkalkulierte Option: wenns gut läuft hab ich Ruhm und Ehre, wenns blöd läuft dann sterbe ich halt. In sha‘ Allah.
(Und zu der „höchsten Not“ gibts heute im Spiegel ein Interview mit einem Reiner Klingholz: Migration tritt erst ab einem gewissen Wohlstand auf – und da werden Zahlen genannt, damit hab ich in solchen Ländern schon selber zufriedenstellend gelebt. Die „höchste Not“ betrifft nur ganz wenige.)
Der einzige Ausweg, den ich aus so einem Schema sehe, ist, sich nicht erpressen zu lassen und eben nicht zu tun was verlangt wird – denn anderenfalls geht das immer so weiter. Das hat der Salvini gemacht (aus welchen Gründen auch immer), und auf ZDF gibt es eine Grafik, um wie viel die Todesfälle dadurch weniger geworden sind (denn wenn es nichts mehr zu gewinnen gibt, dann hört das ganz schnell auf) – nur darf das jetzt auch nicht sein, weil der Salvini ist ja böse.
Soweit mal ein paar Blickwinkel, die mir in den Sinn kommen, nachdem ich ein bischen in Afrika war und ein bischen mehr in Asien (und da auch ne Weile gearbeitet hab).
Aber ich als Brückenbauer? Das ist viel zu viel der Ehre! Dafür bin ich doch zu sehr Querdenker, und komme mit ausführlichen Blickwinkeln daher, die dann nicht recht ins gewohnte Bild passen und die viele zu anstrengend finden…
Lieben Gruß!
P.
Lieber PMc,
sich einen Überblick über die verschiedensten Weltanschauungen zu verschaffen,
ist vermutlich nicht verkehrt. Wahrscheinlich kann man in fast jeder philosophischen und theologischen Denkrichtung irgendetwas entdecken, das bei der Lebensbewältigung hilfreich sein kann. Und ich finde auch, dass man ohne eine ordentliche Portion Buddhismus kaum durchs Leben kommt. Buddhistische Lehrbücher fand ich allerdings immer sehr mühsam zu lesen, obwohl die Erkenntnisdichte ja speziell bei dieser Buchgattung relativ hoch ist. Zum Glück gibt es ja auch gut lesbare Bücher aus dem belletristischen Bereich, die bei ihrer Lesefreundlichkeit auch noch wichtige Erkenntnisse über den Buddhismus vermitteln. Ganz spontan fällt mir Siddhartha von Hermann Hesse ein. (Ich denke, dieses Buch werden viele kennen.) Ziemlich gut finde ich auch „Triffst du Buddha, töte ihn! – Ein Selbstversuch“ von Andreas Altmann. Hesse und Altmann sind ja wirklich sehr verschiedene Autoren, aber ich mag beide.
Weil ich überwiegend ein pessimistischer Mensch bin, fühle ich mich zum Teil auch Schopenhauers „Aphorismen zur Lebensweisheit“ verbunden. Zumeist versuche ich mich an die folgende Lebensmaxime zu halten: Möglichst nicht zu viel von sich selbst und seinen Mitmenschen erwarten, dann sind die Chancen relativ gut, dass man vom Leben nicht allzu sehr enttäuscht wird. Ein Misanthrop bin ich aber trotzdem nicht. Ich finde, es gibt wundervolle Menschen. Und eigentlich wundere ich mich immer wieder darüber, dass es angesichts des ganzen Leids, das Menschen erdulden müssen, nicht noch mehr Mord und Totschlag gibt.
Aber ja doch, lieber Stefan, auf jeden Fall Hermann Hesse! Das war für mich eine ganz erschütternde und aufwühlende Erfahrung. Zunächst hatte ich mir einfach gesagt, okay, ich existiere offenbar, und mich umgibt eine Welt, also will ich herausfinden was es damit auf sich hat. Und bin so unweigerlich zu Erkenntnissen gelangt, die mich auch verändert haben, mit dem Ergebnis, dass ich mit dem was normale Menschen tun (wie zB ein Studium ordentlich abschließen, eine Familie gründen, gesellschaftlich angesehen sein u.dgl.) nicht mehr viel anzufangen wusste – und die ihrerseits auch mich nicht recht zu verstehen schienen. Und da hab ich mich dann lange Jahre gefragt ob ich womöglich geisteskrank bin. Und dann fiel mir H.Hesse in die Hände, konkret das Glasperlenspiel. Und das war schockierend: da schreibt jemand, und erzählt von diesen geistigen Welten, als wärs etwas ganz bekanntes womit man sogar kreativ umgehen und Geschichten schreiben kann. Ganz eigene Geschichten, die vom Duktus fast an Kinderbücher erinnern, aber das ganz sicher nicht sind, sondern wohl eher an das erinnern, was man als Erwachsener oft nicht mehr wahrnehmen will, weil ja das angeblich „wirkliche“ Leben viel wichtiger sei…
Noch jemand, wo ich das gefunden hab (und ungemein heilsam fand) ist Ursula K. leGuin. Bei ihr erscheint die spirituelle Ebene nicht so unmittelbar, ist aber, wenn man sie denn wahrnehmen mag, genauso präsent.
Und dann, ja dann hab ich die schwarze Szene entdeckt – und hab bei manchem, was man zB beim WGT im Schauspielhaus sehen kann, ganz dieselbe tiefe berührende Qualität wiedergefunden, diesmal in musikalischer Form. Und dann hab ich mir gedacht, eigentlich müsste man da zuweilen schon von Sakralmusik sprechen – halt nicht in dem Sinne, wie der Begriff heute von der Kirchenmusik geprägt ist, sondern zurückverbindend, weit weit zurück, als es noch keine U und E Musik gab, und die spirituelle Dimension der eigentliche Sinn der Sache war.
In diesem Sinne, lieben Gruß!
P.
@PMc: Schön, dass noch jemand hier Hermann Hesse und Ursula K. Le Guin kennt und schätzt. :-) Ich denke, gerade Hesse war ein fast synästhetisch anmutender Schriftsteller, so zu lesen und zu bestaunen in „Klingsors letzter Sommer“, ein sehr wehmütig-melancholischer Roman.
Sagt Dir der „Walter-Kempowski-Preis“ etwas? :-)
Grüße, Anna
Lieber PMc,
ja, im Schauspielhaus gibt es häufig sehr schöne WGT-Konzerte. Herausragend fand ich zum Beispiel das dezent instrumentierte Dornenreich-Konzert beim WGT 2016. Auch das Bühnenbild war toll: das Triptychon „Eros und Thanatos“ von Lisa Schubert. (Wobei das brachiale Metal-Konzert im Felsenkeller natürlich auch klasse war). Dornenreich fällt mir auch deshalb ein, weil die Band das Gedicht „Ich bin ein Stern“ von Hermann Hesse vertont hat – und zwar auf der CD „Durch den Traum“.
An Sylvia_Plath und PMc: Ich habe eigentlich immer gedacht, dass Hesse in der Schwarzen Szene relativ bekannt ist. Aber vielleicht ist das Dornenreich-Beispiel ja doch eher ein Einzelfall.
Kennt jemand noch andere Beispiele der Hesse-Rezeption in der Schwarzen Szene?
Stefan Kubon : Ich dachte auch immer, dass H. Hesse in der schwarzen Szene sehr bekannt sei. Weitere Beispiele der Hesserezeption kenne ich leider nicht, dafür aber u.a. Novalis-Vertonungen (z.B. von Xeno & Oaklander) sowie Kafkainterpretationen (z.B. von Janus).
Anna, Du kennst leGuin… wow! *freu*
Walter Kempowski sagt mir leider gar nix, aber ich bin auch kein Literaturkenner, und Hesse ist für mich vor allem Mystiker. Dass er dazuhin eine sehr feine, sinnliche, vielschichtige Weise der Wahrnehmung und Beschreibung hat (was Du synästhetisch nennst), kommt noch dazu.
Stefan Kubon: dass Hesse in der Szene bekannt ist, kann ich mir gut vorstellen. Aber das rührt an eine Schwierigkeit, die mir (als „Quereinsteiger“ ;) ) immer wieder auffällt: es scheint keine ausgeprägte gemeinsame Ideenwelt zu geben, genauso wie es auch kaum eine gemeinsame politische Vision gibt.
Wenn man das etwa mit den Hippies vergleicht (ja ich bin ein ziemlich alter Knabe ;) ), da gab es das alles (und da weiss man auch, dass Hesse recht beliebt war): gemeinsame Ideen, Bücher und Geschichten die ausgetauscht wurden und sozusagen typisch waren, eine politische Grundausrichtung (die mal mehr, mal weniger aktiv ausgedrückt wurde) und vor allem: eine gemeinsame Vorstellung des „so wollen wir leben“, die man auch versucht hat aktiv in der Gesellschaft umzusetzen (das ist ja eigentlich das ursächlich poltische: wie man sich Gesellschaft und Miteinander real vorstellt – irgendwelche Programme und Ziele sind dann eher etwas worüber man lang streiten kann).
In der Schwarzen Szene finde ich nun zwar eine unglaubliche Reichhaltigkeit an wunderschöner Kunst, aber keine gesellschaftliche Vision, bzw. wenn es sich denn überhaupt in Worte fassen lässt, eine Betonung des Individuellen, des Andersseins, und vielleicht ein „lasst mich doch einfach in ruhe mein ding machen“. Oder sehe ich das falsch?
An Sylvia_Plath: Ich denke auch, dass Kafka eine Rolle spielt. Bei der Entstehung des The Mission-Song „Met-Amor-Phosis“ hat nach Wayne Husseys Aussage auch Kafkas Text „Die Verwandlung“ eine Rolle gespielt. Und dieser verstörende Kafka-Text hat ja sogar die Band Samsas Traum zu ihrem Namen inspiriert.
An PMc: Ich meine, dass es sich von selbst versteht, welche „gesellschaftliche Vision“ die Schwarze Szene hat. Man muss doch nur mal schauen, in welchen Ländern bzw. politischen Systemen die Szene besonders lebendig ist. Das sind doch fast ausschließlich politische Systeme, in denen die Freiheitsrechte des Individuums einen relativ hohen Stellenwert besitzen. Deshalb ist zumindest für mich die Gestalt der „gesellschaftlichen Vision“ der Schwarzen Szene relativ eindeutig bestimmbar. Sicherlich werden in dieser gesellschaftlichen Vision der Individualismus und die kulturelle Vielfalt besonders wertgeschätzt. Ich denke, dass es nur durch die Unterstützung einer derartigen Gesellschaftsvision (auch weiterhin) möglich sein wird, dass „man in Ruhe sein (schwarzes) Ding machen kann“.
Aber ich finde auch, dass die verbindenden politischen Vorstellungen der Schwarzen Szene nur auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau vorhanden sind.
Trotzdem ist nach meiner Einschätzung bei den Anhängern der Schwarzen Szene eine ganz spezifische Form der Weltsicht derart häufig vertreten, dass man diese Weltsicht als typisch für die Szene bezeichnen kann. Und ich denke, diese Weltsicht trägt vor allem Wesenszüge der Existenzphilosophie in sich.
Nachdem der (westlich geprägte) Mensch durch die Aufklärung seinen Glauben an eine von Gott abgeleitete absolute Wahrheit verloren hat bzw. von dieser vermeintlich objektiven Wahrheit befreit wurde, ist der Mensch nun sich selbst überlassen und sieht sich gezwungen, sich ohne jeden göttlichen Beistand einen subjektiven Reim auf die als chaotisch (oder zumindest rätselhaft) empfundene Schöpfungsordnung machen zu müssen. Und ich denke, die Suche nach diesem „subjektiven Reim“ betreibt die Schwarze Szene sehr engagiert. Insbesondere diese (bereits sinnstiftende) Suche scheint mir ein Markenkern der Szene zu sein.
Und auch hier stößt man wieder auf die Frage nach der gesellschaftlichen Vision der Szene. Diese besonders engagierte „Suche“ ist eben nur möglich in einer politischen Ordnung, in der die Freiheit des Individuums wertgeschätzt wird. Nur in einer derartigen politischen Ordnung ist es möglich, dass sich diejenigen suchenden Menschen, die sich von der schwarzromantischen Ästhetik magisch angezogen fühlen, in der Szene zusammenfinden können. Ihr Suchen hat diese Menschen in die Szene geführt. Und die Ästhetik, die sie dort vorfinden, beseelt die Menschen.
Doch es geht nicht nur um die Ästhetik, es geht auch um die konkreten Inhalte, die durch diese Ästhetik transportiert werden. Diese Mischung aus Ästhetik und Inhalt beglückt die Menschen, weil diese Mischung dem eigenen Lebensgefühl entspricht. Die Szenewelt wird aufgrund ihrer schwarzromantischen Schönheit und den damit verknüpften Inhalten als etwas Sinnstiftendes wahrgenommen. Aber natürlich wird die Suche nach dem „subjektiven Reim“ dadurch nicht wirklich beendet. Die Suche geht weiter, das Fragen geht weiter …
@PMc: Ich habe dich bloß nach dem Walter-Kempowski-Preis gefragt, weil du dich in deiner Vorstellung nach einem Bekannten von mir angehört hast, der dieses Jahr einen Text für eben diesen Preis eingereicht hat. In der schwarzen Szene ähneln sich viele Mitglieder auch in ihrem Streben nach der Sinnsuche und den „Dingen hinter den Dingen“. Damitz stimme ich dem gesamten letzten Text von Stefan Kubon zu, der das so ausführlich beschreibt, was viele in der Szene miteinander verbindet.
@ Stefan Kubon: die letzten drei Absätze Deines letzten Beitrags finde ich wunderbar geschrieben, Du hast das, was (u.a. für mich) die Szenezugehörigkeit bedeutet, sehr gut in Worte gefasst.
An Anna und Tanzfledermaus: Danke für eure zustimmenden Worte.
Grüße von Stefan
Ich hab den Artikel bestimmt schon mal gelesen, noch bevor ich angemeldeter User war. So ein Event auf so einem Festival wäre bestimmt eine interessante Gelegenheit gewesen, Leute kennen zu lernen.
Ich muss dabei durchaus zugeben, dass mich Aktivisten bzw. NGOs wie XR oder GermanZero e.V. momentan stärker interessieren als aktuelle Events & Ereignisse in der Szene!
Ich hatte grad über Ostern ein Erlebnis, dass mich doch sehr schockiert hat und das meine Motivation sich bei derartigen Initiativen einzubringen, massiv erhöht hat.
Ich bin mir sicher, dass auch in Zukunft wieder Möglichkeiten entstehen, Gleichgesinnte aus der Gothic-Szene für allerlei Initiativen kennenzulernen. Ich denke, das es solche Aktionen wir in diesem Artikel beschrieben, in Zukunft noch öfter zu sehen gibt. Fraglich ist allerdings, wie sehr sich die Szene ideologisch vor einen Karren spannen lässt. Wir werden beobachten :)
Robert Ja, dass hoffe ich doch sehr. Einer der Gründe dafür, dass meine Szene-Kontakte in der Studien- und Promotionszeit immer dünner wurden, war, dass gemeinsame musikalisch-ästhetische Vorlieben manchmal nicht ausreichen. Und ich in Würzburg irgendwie nicht das richtige Thema oder nicht die richtigen Leute erwischt hatte.
Und zu einem Aktivisten-Camp muss die Szene durchaus nicht werden und sei es auch nur, weil auch man nicht immer über Politik reden muss. Solange ich auf schwarzen Events- oder Diskussionsplattformen nicht auf Rechtsaussen, Impfskeptiker oder Merchants of Doubt en masse treffe, es also so wie bisher bleibt, ist alles okay.