Mann oder Frau? Heutzutage ist das gar nicht mehr so leicht zu unterscheiden, vor allem, wenn man sich in visuell dominierenden Szenen wie der Gothic-Szene bewegt. Heutzutage ist jedoch nicht ganz richtig, denn im Grunde genommen war das, gerade in Subkulturen, nie wirklich anders und die Diskussion aus dem Artikel der Bravo „Jetzt schminken sich auch unseres Jungs“ möchte ich hier nochmal aufgreifen.
Beschäftigt man sich mit dem verwischen der Geschlechter und durchforscht das Netz nach einschlägigen Quellen, so spinnt sich ein dichtes Netz aus Einflüssen und Verbindungen, die eng mit den Emanzipationsbestrebungen der Frau im 18. und 19. Jahrhundert verbunden zu sein scheint. Zu dieser Zeit brachten es Frauen zu ersten Schriftstellerischen Erfolgen, wie beispielsweise Mary Shelley mit ihrem legendären Werk Frankenstein, deren Mutter Mary Wollstonecraft grundlegende Werke der britischen Frauenrechtsbewegung verfasste 1.
Bleiben wir an der Oberfläche der Thematik und erstellen erste Thesen. Das verwischen der Geschlechter ging von der Frau aus, die immer schon unter der Bevorteilung des Mannes zu leiden hatte und seit je her für Gleichberechtigung kämpft. „Sport hielt man bis in die Sechzigerjahre nur für junge Männer geeignet, da sie dort ihre überschüssige Energie loswerden und gleichzeitig ihre Lehrfähigkeit stärken konnten. Frauen dagegen durften keinen Kilometer rennen, weil es, so glaubte man, ihre Gebärfähigkeit beeinträchtigen könnte.“ 2 Nur ein Beispiel das deutlich macht, das es sich beim Geschlechterverwischen im historischen Sinne eher um die neue Verteilung der Geschlechterrollen handelte. Was hat das nun alles mit der Gothic-Szene zu tun?
Gemach lieber Leser, gemach. Mitte der 70er kam der Punk, kurz darauf war Gothic ein Begriff. Weiß geschminkte Gesichter, mit Kajal umrandete Augen und roter Lippenstift waren hier noch nicht Ausdruck für eine Neuverteilung der Geschlechter, sondern wurden eher durch das fiktive Bild des Vampirs in frühen Horrorfilmen verstanden und symbolisiert die spirituelle Nähe zum Tod. Mitte der 80er nannte man das „totschminken“. Was im Punk begann, Provokation um jeden Preis, wurde durch die Gothic-Szene im visuellen Sinne ästhetisch aufbereitet. Schminke war hier noch kein Ausdruck einer neu verstandenen Geschlechterrolle, sondern Mittel zum Zweck den eigenen Vorstellungen von „Gruftie-Sein“ gerecht zu werden.
Die New Romatic Bewegung wirft da schon andere parallelen auf, Schminke und weiblich anmutende Kleidung und der exzessive Drang nach Verkleidung führte von etwa 1980 bis 1982 zu wahren Paradiesvögeln, die man abfällig auch als Tunten bezeichnete. Was als Schimpfwort gedacht war, eröffnete jedoch eine andere Sichtweise der Dinge. „Die Grenzgänger zwischen den Geschlechtern verkörpern eine Botschaft ganz anderer Art […] (sie heißt): Weiblichkeit ist machbar. Sie heißt: Weibliche Reize, sexuelle Signale sind durch Kosmetik, Kleider, Körperhaltung definiert. Wenn aber Weiblichkeit künstlich herstellbar ist, wenn die Fiktion sich nicht von der Realität unterscheidet – was soll dann wirklich noch männlich, was weiblich sein?“ 3
Ich denke, das viele Publikationen, die das Verwischen der Geschlechter als Phänomen der Gothic-Szene identifizieren die Sache völlig falsch betrachten. „Auch im Bereich der Sexualität (bzw. Darstellung) finden sich Identitätskonzepte unterschiedlichster Art, die oft die Grenzen zwischen den Geschlechtern verwischen.“ 4 Nicht das Verwische der Geschlechter ist die Grundintention am schminken der männlichen Gothics, sondern das stilisierte Bild eines Vampirs, oder die Fokussierung einer zeitlichen Epoche wie es beispielsweise bei den Schwarzromantikern zu sehen ist. Es war ein Stilmittel des persönlichen Ausdrucks, des eigenen Stils.
Und heute? Betrachten wir nun die Gothic-Szene der letzten 15 Jahre, beobachtet man, das nun auch dieser Grundgedanke verloren gegangen zu sein scheint, oder sich zumindestens der Vermischung mit anderen Einflüssen hingeben muss. Nachdem die Mittel der Provokation auszugehen scheinen, wagt man sich an die letzte Bastion der äußeren Identifizierbarkeit, der Verkörperung des eigenen Geschlechts. Androgynität, Geschlechterrollen und optische Grenzgänge werden in der Popmusik generell als Mittel zum Zweck einsetzt. Florian Krämer schreibt in Androgyne Geschlechterbilder in der Popmusik: „Am Anfang der Androgynität in der Popmusik stehen also keine ernst gemeinten symbolische Subversionen von Geschlechternormen, sondern Selbstdarstellung, Flucht vor der Realität, Rebellion und Provokation.“
Das Verwischen der Geschlechterrollen ist also keine Szene-Eigenes Phänomen sondern wird in der Popkultur vorgelebt, von einer Re-Emanzipierung des Mannes zu sprechen ist sicherlich noch zu früh. Was in der Gothic-Szene vielleicht als Hommage an die Darstellung von filmischen Vampiren gedacht war, verwässert sich nun im allgemeinen Trend der Popmusik. Das verwischen der Geschlechter scheint nicht ein Ausdruck des eigenen Lebensgefühls zu sein, sondern ein weiteres Mittel der Provokation. Nicht das unterscheiden der Geschlechter ist schwierig, sondern die Differenzierung des Hintergrunds – insofern überhaupt einer vorhanden ist.
Einzelnachweise
- vgl. auch: Schriftstellerinnen der Romantik, Barbara Becker-Cantarino, erschienen 2000 Verlag C.H. Beck München[↩]
- Quelle: Die Freizeit nehm ich mir, Artikel auf annabelle.ch aus der Rubrik Psychologie[↩]
- Aus dem Artikel: Engel mit großen Füßen, Barbara Supp im Spiegel 35/1992[↩]
- Vergleiche hierzu stellvertretend die Publikationen von REMIND – Gothic Subkultur[↩]
Soweit ich das beurteilen kann, stellt jede Szene nur ein Spiegelbild der Gesellschaft dar. Es gibt in jeder Szene Abweichungen in jede Richtung. Gefällt mir zwar nicht, aber scheint so zu sein. Was das Unterscheiden der Geschlechter angeht, da gibt es sogenannte primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale, vielleicht helfen Dir diese weiter :)
Und abgesehen davon sollte ich mal meine Schnauze halten. Zu viele Kommentare.
@ Vizioon Auf keinen Fall die Schnauze halten! Deine Kommentare hier im Blog sind immer sehr erfrischend ;-). Bisher hab ich nur gelesen, jetzt schreib ich mal was.
Ich bin ganz und gar nicht der Meinung, dass das „Verwischen der Geschlechter“ in der Schwarzen Szene etwas mit Provokation zu tun hat. Die Provokation weicht ja ohnehin mehr und mehr dem Gothic Trend. Schminken und Verkleiden gehört in der Szene einfach dazu und ich glaube nicht, dass sich heute viele Leute Gedanken über die Gesellschaft und über Provokation machen, während sie sich Cyber Dreads ins Haar schrauben und das neue, sündhaft teure Outfit von XYZ überschmeißen. Sie wollen allenfalls auffallen- und zwar innerhalb der Szene.
Es geht hier – und das meine ich vollkommen wertfrei – überwiegend um „Party machen“ und Kajal und Schminke gehören für Männlein wie für Weiblein eben dazu – wenn sie denn mögen. Die Anhänger der Country Szene wollen auch nicht provozieren, wenn sie sich nen Cowboyhut aufziehen. Es ist halt ein Lebensgefühl und eine Umgebung, in der man sich so geben darf, wie man es mag.
Man sollte nicht mehr hinein interpretieren als da ist. Der größte Teil der weiblich gekleideten und geschminkten Männerschar läuft im Alltag wenig provokativ in Jeans und T-Shirt rum und verbannt Rock und Mieder, Kajal und Wimperntusche in den Schrank – bis zur nächsten Party. Provokation geht anders. ;-)
Künstler muss man hier ohnehin rausnehmen. Sie stellen von Boy George bis David Bowie auf der Bühne etwas dar, was sich gut verkaufen lässt. Und um dieses „Ich bin ganz doll authentisch…ehrlich!“ zu glauben, muss man wohl zwei Jahrzehnte jünger sein als ich es bin.
Orphi: oh, danke, unerwartet aber nett.
Ich muß Dir trotzdem widersprechen, denn ursprünglich war das Verwischen eine Provokation. Ich erinnere mich da an mich selbst. Ich bin mit Kajal und „Alien Sex Fiend“-T-Shirt durch eine Max Ernst-Ausstellung gelaufen, und ja, ich wollte provozieren.
Ich nehme aber auch an, daß sich dieses Thema inzwischen erledigt hat, denn oben genanntes ist ziemlich lange her. Was mich mich auf den Gedanken bringt, Dir doch nicht zu widersprechen.
Aber doch, denn verkleiden hat nichts mit der Szene zu tun!
@Vizioon
Es kommt auch ein wenig drauf an, was man unter „Verwischung der Geschlechter“ versteht. Kajal und Alien Sex Fiend T-Shirt finde ich persönlich nicht androgyn sondern …normal? Wärst Du da jetzt mit Korsage, künstlichen Augenwimpern, Rock und Plateaustiefeln durchmarschiert… Aber X-Tra-X gab es da ja noch nicht. Da fällt mir ein: Wo hatten „Dead Or Alive“ eigentlich ihre Klamotten her? :-)
Ich habe meinen Kommentar auf die aktuelle Situation in der Szene bezogen. Mag sein, dass Künstler wie Szeneanhänger früher mal provozieren wollten, aber heute schockt das Androgyne doch nun wirklich keinen mehr. Ich denke, bei der heutigen „Verwischung der Geschlechter“ in der Szene – und ich meine nicht Kajal – spielt der Erotikfaktor gekoppelt mit dem „Auffallen wollen“ eine wesentlich größere Rolle als alles andere.
Verkleiden hat heute sogar extrem viel mit der Szene zu tun. Auch wenn es weh tut: Geh auf ein Festival und schau dich um: Mindestens 40 Prozent der Leute sind eindeutig sowas von bescheuert verkleidet…
Vielleicht hätte erwähnen sollen, daß dieses Ereignis 19 Jahre her ist. Und androgyn war es auch nicht gemeint (ich finde androgyn scheisse), sondern provokativ.
Und nö, Szene hat nicht mit verkleiden zu tun. Nur weil sich Leute verkleiden, gehören sie noch nicht zur Szene. Die Szene definiert sich nicht über das WGT.
Wer gehört denn dann zur Szene? Die heutige Gothic Szene hat nichts mehr mit der Post-Punk New-Wave Szene von vor 19 Jahren zu tun. Früher war es Provokation und Wut auf die Gesellschaft, heute ist es überwiegend Karneval und Posing. Demnächst schmeisst bestimmt noch irgendwer Bonbons in die Menge. Und um ein bißchen beim Thema zu bleiben: Früher war die Verwischung der Geschlechter vielleicht Provokation, heute ist sie ein Modetrend.
@Vizioon: Für mich überraschend: Ich stimme Dir zu. Nicht das du zu vielen Kommentare schreibst, sondern zu dem auf das Thema und auf Orphi bezogenen Kommentare. Verkleiden hat nichts mit der Szene zu tun. Das stelle ich auch immer wieder bei Gesprächen mit anderen Szenemitgliedern fest. Vielleicht wird man im Alter weniger Provokativ, oder sagen wir besser Offensiv.
Orphi: Ja und Nein. Die heutige Szene hat in der Tat nichts mehr mit der vor 19 Jahren zu tun, sie hat sich weiterentwickelt und ist gewachsen. Wobei das extreme Wachstum seit den 00ern eher negativen Einfluss auf die Szene selbst hatte. Wir müssen zwischen denen unterscheiden die vor 19 Jahren provozierten und denen, die das seit 1 Jahr für einen „geilen Style“ halten. Die Jugend von damals sind die Erwachsenen von heute. Schwarz geblieben ist der Kern der Szene, der heute seine Falten in einschlägigen Treffpunkten zu Schau stellt und von denen man sicherlich nicht mehr behaupten dürfte, das sie sich verkleiden.
Viele, die einst schwarz waren, haben das als Phase erlebt und haben der Szene irgendwann den Rücken zugedreht, die Gründe dafür sind ebenso vielfältig wie unterschiedlich. Doch die Szene von der eigentlich die Rede ist, lebt weiter. Jedoch überdeckt von einer Masse von Menschen, die die Klamotten dazu benutzen, sich selbst zu verkleiden um als Weekend-Goth die Club unsicher zu machen. Massenveranstaltungen wie das WGT sind da ein Magnet für viele dieser Leute.
„Und um ein bißchen beim Thema zu bleiben: Früher war die Verwischung der Geschlechter vielleicht Provokation, heute ist sie ein Modetrend.“ Richtig, bis auf die Tatsache, das die Grenzen zwischen Modetrend und Provaktion sich noch im „Fluss“ befinden, denn solange Kataloge das als Mittel zum Zweck benutzen Aufmerksamkeit auf ihre Produkte zu lenken klappt die Gratwanderung zwischen Provokation und Modetrend.
Und wer weiß, vielleicht sieht das alles in 5 Jahren schon wieder völlig anders aus:)
Ganz nebenbei: Schön das du Dich entschieden hast das Schweigen zu brechen, ich habe mich ja schon immer gefragt was hinter vor den Bildschirmen steckt über die diese Interseite flackert ;)
Im Prinzip sind wir damit bei dem Problem, die Szene zu definieren.
Übrigens, ich war nie wütend auf die Gesellschaft, und die Provokation hat auch nicht funktioniert. Das mag an meiner attraktiven Begleiterin als auch an der Toleranz der Anwesenden gelegen haben.
Orphi: Mir fällt es schwer, Dir konkret zu antworten, da ich nicht so genau weiß, wie Du die Szene definierst, bzw. wo Du dort stehst. Ich mag das Verwischen der Geschlechter nicht, und ich mag auch vieles nicht, was ich mein WGT sehe, z.B. diesen, wie soll ich es nennen, Military-Style.
@Robert: Erstmal danke, denn auf Platz 1 der Kommentare zu stehen ist mir eher unangenehm. Manchmal kann ich mich einfach nicht zurücknehmen. Ich (… und break, ich habe gerade 50 min mit meiner Mutter telefoniert, und habe gerade k.A. was ich schreiben wollte).
@ Robert
Möglicherweise wohne ich in der falschen Stadt. Ich wäre ziemlich froh, wenn es hier „einschlägige Treffpunkte“ geben würde, an denen sich der „Kern der Szene“ trifft. So bleiben mir jedoch nur die üblichen Festivals und Konzerte mit den von Dir beschriebenen Weekend-Gothics mit wenig authentischer Ausstrahlung. Mein Blick auf die „Szene heute“ ist sicher ganz erheblich durch diesen Umstand geprägt.
Und durch den Umstand, dass es auch bei vielen neuen Künstlern ganz gehörig nach Trittbrettfahren riecht. Der Kommerz hat die Punkbewegung zerstört und er zerstört gerade die Schwarze Szene. Hiermit meine ich nicht echte Szene Bands, die Geld mit ihrer Musik verdienen wollen (vollkommen okay!) sondern hirnlose Musiker, die sich verkleiden, böse schminken (von mir aus auch androgyn) und die Kohle mitnehmen, weil Gothic gerade so gut funktioniert.
Auf dem letzten Festival (das erste nach langer Zeit) haben sich Disko-Mäuschen in schwarzem H&M Shirt mit den Ellenbogen den Weg zur Bühne frei gekämpft, während an den Bier-Rondellen besoffene Kneipengesichter den halbnackten Weibern nachgegafft haben – selbstverständlich trugen sie schwarze Jeans – haben sie für diesen Anlass wahrscheinlich aus den Tiefen ihres Schranks gekramt. Für die Musik haben sie sich eher nicht interessiert, dafür aber laut rumgegrölt. Ich will mich nicht reinsteigern und auch keine Romane schreiben, aber…ich hab mich dort nicht wohl gefühlt.
Den Zeitpunkt, als es gekippt ist, setzte ich auch etwa auf 2000, wobei ich 2001 und 2003 noch auf Festivals war, die eine angenehme Atmosphäre hatten. In 5 Jahren sagst du? Juchuuuuu!!! :-)
@ Vizioon
Meine Definition der Szene basiert auf dem, was ich aktuell (zugegeben mittlerweile eher aus der Ferne)sehe. Und ich sehe eben überwiegend Mode mit nichts dahinter. Ich sehe Bands, die sich tiefsinnig geben und betonen, dass ihnen die Songtexte und das Feedback des Publikums unheimlich wichtig sind und auf ihren Webseiten unter „Kontakt“ die Booking Möglichkeiten, aber keinesfalls eine E-Mail Adresse oder meinetwegen ne Postfachadresse für ein Feedback veröffentlichen. Bei The Cure kann ich es verstehen, bei kleinen deutschen Independent Bands nicht. Kommunikation ist nicht erwünscht. Wozu gibt es denn myspace? Das Management wird die lästigen Kontaktanfragen schon bestätigen und wer will, kann ja seine Meinung posten! Das Bild der Gothic Family hat ziemlich gelitten, finde ich.
Vermutlich meine ich mit „Szene“ nicht den harten Kern, der sich offensichtlich erfolgreich vor mir versteckt, sondern das aktuelle Gesamtbild. Mein Stand in der Szene? Ich würde sagen: Ziemlich weit abseits mit Falten und verwirrtem Blick – abwartend. Robert sagt ja, es dauert nur noch 5 Jahre, dann fährt der komische Besuch in der heimatlichen Höhle wieder heim.
@Vizioon: Die Liste aktualisiert sich ja alle 30 Tage, so das du nicht für immer dort festgenagelst stehst. Was natürlich nicht heißen soll, das du Deine Aktivität einschränken sollst :)
Orphi: Fessel mich jetzt nicht an die 5 Jahre :) Das war eine bescheidene Schätzung mit einer Spur Optimismus und einer Prise Hoffnung, alle Angabe ohne Gewähr. Aber ja, meiner Ansicht nach steht die Szene vor einem Kollaps, die Blase „Gothic“ ist bis zum zerreißen gespannt. Bestes Anzeichen dafür, das Gothic sich selbst eingeholt hat: Das Umfeld findet es lächerlich. Ich glaube, dann fühle ich mich wieder wohl.
Wie ich schon oft betont habe, ist das Internet für den Erhalt eines Kerns der Szene mitverantwortlich und mittlerweile unerlässlich geworden. Auch in meiner Stadt gibt es keine expliziten Kerntreffpunkte sondern nur sporadische Parties, die mit Gothic nicht allzu viel zu tun haben.
@Robert. Das hab ich auch nicht vor ;)
Orphi: Genau das würde mich interessieren. Also was Du unter der Szene verstehst: Offenbar schon mal, daß die Mode nur benutzt wird, und daß Dir der direkte Kontakt zu Bands fehlt. Falls falsch, korrigiere mich.
Grundsätzlich habe ich den Eindruck, daß es vor einiger Zeit einfacher war. Und inzwischen wird es … schwer? Zumindest für mich. Wie gesagt, was ich auf dem WGT sehe, ist für mich teilweise fragwürdig. Ich verstehe nicht, was Pseudo-Militär-Outfits, oder neongetränkte Outfits, oder auch Krankenschwestern (ein stark unterbewerteter Beruf) mit Gothic zu tun haben. Das ist natürlich nur meine Ansicht. Und vielleicht definiere ich nur eine Szene für mich.
Das mit der Definition der Szene haben ja schon viele andere versucht. Eine allgemeingültige Definition scheint kaum möglich, weil es hier nicht um Fakten sondern eher um Emotionen geht. Zudem ist die Schwarze Szene ja durch viele neue Strömungen sehr gewachsen und somit wesentlich komplexer als früher. Jede Definition ist also irgendwie eine eigene.
Der rote Faden könnte eine gewisse Gesellschaftskritik sein oder zumindest die Gewissheit, dass es eine dunkle Seite gibt, die mit „Brot und Spielen“, wahlweise auch mit „Verdrängung und Selbstbetrug“ oder mit „Ignoranz und Tabu“ übertönt wird – persönlich, politisch und gesellschaftlich. Jüngere Leute empfinden das vielleicht eher vage und gehen vielleicht auch optisch ein bißchen ungeschickt ans Werk. Die Älteren können es benennen und bewegen sich souveräner. Beides ist okay, denn es gibt ein Bewusstsein. Szenemitglieder setzen sich – jeder auf eigene Weise – mit der dunklen Seite auseinander und machen – ich sag es mal pathetisch – der vom Licht geblendeten Gesellschaft etwas sichtbar, das diese nicht sehen will und mit dem sie sich nicht auseinandersetzen möchte. Das machen viele „Nicht-Schwarze“ auch, aber vielleicht nicht unbedingt optisch.
Die Szene hat für mich darüber hinaus unmittelbar etwas mit Kreativität zu tun, mit Phantasie, Kunst, Kultur, Geschichte, Ambiente und Respekt. Eine Subkultur, die genau das nicht macht, was sie an der Gesellschaft kritisiert! Und all das hat bisher auch die friedliche und durchweg angenehme Atmosphäre der Festivals ausgemacht. Es gibt einen Verhaltenskodex, der natürlich entstanden ist. Wenn jemand nicht in diesem Bewusstsein lebt, dann verhält er sich anders. Und genau das passiert aktuell in der Szene. Ich hab jetzt natürlich alle in einen Topf geworfen, was natürlich Unsinn ist, aber das ist der Nachteil von Definitionen.
Nun die Krankenschwestern, Taucherbrillen, Gasmasken, Militärjacken und andere Absonderlichkeiten: Wenn ein Künstler auf der Bühne eine Gasmaske oder eine Militärjacke trägt, weil es zur Performance gehört und weil eine Aussage dahinter steckt, finde ich das zwar überflüssig, aber doch vertretbar. Krankenschwestern und Taucherbrillen krieg ich gar nicht unter. Meiner Meinung steckt aber in den meisten Fällen nichts dahinter. Es sind dämliche Modetrends, die in der Tat nichts mit der Szene, wie ich sie kenne, zu tun haben. Nicht authentisch, ohne Bewusstsein, ohne Kreativität und vor allem ohne Hirn.
Und um einen letzten Versuch zu wagen, den Artikel nicht ganz außen vor zu lassen: Auch die Verwischung der Geschlechter ist ein Modetrend. David Bowie wollte ganz klar provozieren, Bill Kaulitz (oder vielmehr sein Management) will Kohle und kleine Mädchen zum schreien bringen. Einzig Künstlern wie beispielsweise Chris Corner nehme ich das Spiel mit der Androgynität ab. Hier geht es aber nicht mehr um Provokation sondern um Ästhetik. Außerdem schminkt der sich nach dem Auftritt ab und rennt nicht so durch die Fußgängerzone.
Huch, hier gehts ja gut ab! Dabei finde ich gar nicht, dass ihr so meilenweit auseinander liegt, sondern nur unterschiedliche Erfahrungen gemacht habt, vor allem in der Szene heute.
Ich möchte mal meinen Senf zur Androgynität + Szene gestern + heute + morgen dazugeben. Ich meine, dass Gothics in den 80ern mit „totschminken“, Kajal und Fledermauskleidern oder weiten, tausend-und-eine-Nacht-artigen Hosen (wie sie heute wieder für Frauen modern sind) etc. vor allem ihr ANDERSSEIN darstellen wollten und nicht provozieren oder absichtlich androgyn wirken wollten. Man hatte nun mal dieses Lebensgefühl von Verzweiflung, Ablehnung der Gesellschaft, historischem Interesse, Mystik und Dunkel-Übersinnlichem, und versuchte das innere Gefühl über jene Art von Aussehen + Klamotten nach außen zu transportieren, so ihre Identifikation mit der dunklen Seite der Macht ;o) zu verdeutlichen – die nun mal ein bleiches Antlitz hat und nach Tod aussieht.
Was hätten denn die früheren Gothics damit provozieren wollen? Gespräche? Nachdenken? Glaube ich nicht. Die wollten in Ruhe gelassen werden, sonderbar und anders erscheinen. Für Gespräche + Nachdenken + Wachrütteln, na, da hätten sie vllt. zu den Grünen gehen können. Um das zu erreichen, dafür sahen sie für damalige Verhältnisse zu „abscheulich“ aus, so dass es nur wenige Medien + Menschen gab, die sich öffentlich damit beschäftigt haben. Früher war es eine stark tabuisierte Szene und es war auch nicht so einfach, da reinzukommen. Man musste schon im Inneren auch so sein. Nicht nur äußerlich wie heute einfach schwarz anziehen und zu leicht zugänglicher Musik a la VNV + Welle Erdbeer, die „ganz tolle Stimmung machen“, bisschen rumzappeln. Und in die Hände klatschen, wenn die Band das vormacht. **ich werde zynisch, sorry**
Mein Freund hat einen TV-Bericht von Anfang der Neunziger glaube ich. Da sieht man mal, dass die Gothics nicht einfach so jeden akzeptiert und „aufgenommen“ haben. In sich abgeschottete Grüppchen, die sich nicht in der Öffentlichkeit ausgebreitet haben, sondern lieber ihre selbst organisierten Lovecraft-Lesungen nachts auf Friedhöfen, philosophische Gesprächsrunden beim Wein daheim oder Treffen in dunklen Kellern zum gemeinsamen Musikhören + Fleckenentferner-Schnüffeln (Drogenersatz i.d. DDR, ich kenne das noch von meiner Banknachbarin aus der 8. Klasse, die damals radikal Gothic war) gemacht haben. Das ging tiefer – und geht es bei uns heute ja auch noch. Ich kenne auch junge Gothics, die gute Ansätze für ein Lebensgefühl mitbringen und sich nicht nur über Mode definieren.
Derzeit kommt halt sehr viel Masse rein, und damit auch Mainstream. M.E. aufgrund der mangelnden Loveparade, der zerfallenen Techno-Bewegung (was ist denn Techno – kennt gar keiner mehr. Electro ist das neue Techno) und weil sich die Welt auch weitergedreht hat. Die Leute sind offener geworden, die Jugend nicht mehr so kämpferisch veranlagt wie früher, man will nicht anecken, kann es sich nicht leisten seinen Job zu verlieren (da ist ja auch was dran, deshalb nur am Wochenende), frühere Gothic-Outfits schockieren sowieso niemanden mehr (kennt man ja nun schon paar Jahre) und allgemein hab ich das Gefühl, gibt es solche klar abgegrenzten Jugendkulturen wie früher auch nicht mehr so richtig. Von jedem ein bisschen – heute mal das, morgen mal das – die Leben ist Spaß, Anderssein ein Karneval oder ein Rollenspiel. Anderssein um seine Ruhe zu haben, das wollen heutzutage die wenigsten. Die meisten wollen ja auffallen damit. Das ist meines Erachtens der größte Wandel innerhalb der Szene. Meine subjektive Meinung.
Wo ist der frühere Geist, die Seele des Gothic?? In der Masse heute ist die nur noch bei wenigen zu finden. Vermutlich wird die Szene in den nächsten 5 Jahren auseinander fallen und es wird wieder kleinere Grüppchen geben. Eines davon sind die Oldschool-Gothics oder Menschen mit eben einem Goth-Lebensgefühl. Die lauschen dann der Musik von früher, hören einige akzeptierte neue Bands wo bisschen was dahintersteckt außer Geld verdienen zu wollen und verabreden sich zu konspirativen Gesprächen in Webforen oder kleinen Clubs.
Ich beobachte übrigens jetzt schon, dass die Rückbesinnung auf „alte Gothic-Werte und -Musik“ viele Anhänger hat. Es gibt sehr erfolgreiche Oldschool-GothParties („Gothic geht auch technofrei“ – ist zwar übertrieben, aber die Musik die die da spielen ist sämtlich sehr alt) und Gothic-Kunstabende, Lesungen etc.pp. Rhein-Main-Gebiet ist dahingehend echt toll!
Orphi und @shan dark: Ich versuche mich erstmal am lesen eurer Kommentare. Schön daß es so viel Reaktion gibt. Leider macht mir die Hitze zu schaffen, aber ich versuche mein schlimmstes ;)
Orphi: Schöner Kommentar, stimme im großen und ganzen zu. Was das Verwischen der Geschlechter angeht, ich verstehe es nicht wirklich. Ich verstehe es in sofern, daß nicht jeder Mann nur Macho sein muß, sondern auch Gefühle hat. Hast Du nen Link zu Chris Corner? Ach Unsinn, ich google.
@shan dark: Ja, aber todschmincken? nö, nur ein bißchen rantasten. Und Mystik, von meiner Seite auch ein Nein.
Btw, nicht zynisch.
Orphi: Die Definition der Szene hat sich im Laufe der Zeit x-fach gewandelt und ist – wie du schon richtig sagst – nicht mehr ganz zu erfassen. Der Kern der Sache besteht aus den in den Jahren zurückgebliebenen Einflüssen die ihrer Thematik wegen immer schon gepasst haben. Wenn man so möchte, sind an vielen Definition ein Teil desser dran, woraus jeder einzelne das Definiert, wozu er sich zählt. Die Gothic-Szene bietet auch aufgrund ihrer Altersstruktur interessante Möglichkeiten, so können die „Alten“, die noch nicht in ihrer eigenen Verbitterung ertrunken sind etwas von dem weitergeben aus dem ihrer Essenz der schwarzen Szene besteht, es gibt immer wieder „Junge“ bei denen man damit auf Offene Ohren stößt. Ich sehe es sogar als eine Art Verpflichtung den Kern der Sache, die du so treffend beschrieben hast, weiterzugeben, festzuhalten und vielleicht auch ein wenig zu idealisieren, daran muss nicht zwangsläufig etwas schlechtes sein.
Die Szene hat Massiv unter der Kommerzialisierung gelitten und auch darunter nun endlich ein Stück weit akzeptiert zu werden. Ohne das Netz, wie an vielen anderen Stellen bereits erwähnt, würde es keinen Kern mehr geben.
Androgynität, um wieder zurück zum Thema zu kommen, bläst genau in das selbe Horn. Über den Ausdruck seiner Persönlichkeit oder eines Lebensgefühl ist es zum Modetrend verkommen. Als letztes Mittel den letzten Hauch Provokation zu visualisieren, der der Szene durch Akzeptanz verloren gegangen zu sein scheint.
@shan_dark: Man darf dabei auch nicht vergessen, das einem die Klamotten gefallen die man trägt. Darüber finden viele den Einstieg in die Szene. Ich kleide mich wie ich bin und unterwerfe mich keinen gesellschaftlich ästhetischen Normen, könnte der visuelle Konsenz der Gothic-Szene sein, mit dem auch ich mich identifiziere. Aufmerksamtkeit und Provokation sind angenehme Nebeneffekte, aber nicht ursächlicher Grund.
Ich habe damit angefangen als ich 16 war, weil ich das was Depeche Mode auf der Bühne trug (allen voran Martin Gore) einfach klasse fand. Der „Rest“ kam dann nach und nach :)
Heute hast du mit deiner subjektiven Meinung mehr Recht als du vielleicht denkst. Läuft man in seiner Freizeit so rum wie wir, bleiben einem oberflächliche Kontaktaufnahmen weitergehend erspart. Sehr angenehm. Ich werde so gut wie nie in der Stadt ansgesprochen von Umfragen, Verköstigungsständen, Verkäufern, politischen Partei oder zwiespältigen Vereinen.
Das Rhein-Main Gebiet ist da in der Tat weit voraus, da kann man echt neidisch werden. Im Ruhrgebiet oder auch Rheinland, wo ich wohne ist alles schon eher Techno/Elektro Orientiert. Trotz der hohen Dichte muss man hier schon rund 50 km für eine gute Party in Kauf nehmen, sonst wird man oft enttäuscht.
@ shan dark
Ich glaube, dass ich ein wenig älter bin als du, denn ich war (bin?) einer von den „früheren Gothics“. ;-) Deshalb sehe ich vielleicht auch einige Dinge, die du beschreibst ganz anders. Die Szene damals war keineswegs ein „geheimer Club“, in den man nur schwer reinkam. Du musstest dich lediglich schwarz anziehen und regelmäßig an den richtigen Orten auftauchen. Wie bei jeder anderen „Clique“ auch. Besonders anspruchsvoll war die Musik damals nun wahrlich nicht. Lovecats dumdidum, Master and Servant dumdidum. I fought the law…..lalala.
Im Übrigen gab es auch damals schon die EBM Musik (Die Krupps) und entsprechend gekleidete Anhänger. Ebenso liefen in der „Szene“ Mods mit obligatorischem Parker und auch Punks rum. Alles irgendwie britisch geprägt. Jede Gruppe stand in der Disko in ihrer Ecke, aber es gab durchaus Songs, bei denen sich alle auf der Tanzfläche versammelten. Das Ambiente war allerdings wesentlich kühler – Fabrikhalle statt Plüschsofa! Deko wäre spätestens nach drei Stunden komplett zerfetzt gewesen, könnte ich mir vorstellen. Aber Deko gab es nicht – wollte auch keiner haben.
Ich gebe dir Recht, dass die Szene damals absolut nicht politisch geprägt war. Der Zeitgeist war es aber. Themen wie Umweltschutz, Tierschutz, kalter Krieg, Rassismus, die Atombombe, soziale Abgründe usw. waren allgegenwärtig. In der Szene versammelten sich die Leute, die sich -bewusst oder unbewusst – gegen die bestehende Gesellschaft stellten (außer die Mods vielleicht). Ich sage extra „unbewusst“, weil das nicht unbedingt deutlich thematisiert wurde. Aber warum sucht man den Abgrund und das Düstere und den „Dreck“? Weil man merkt, dass die „schöne, saubere, helle Welt“ eine Lüge ist, oder?
Es gab sehr viele Jugendbewegungen (Popper, Teds, Rockabilly, Heavy Metal usw.). Sie boten alle die Möglichkeit, anders zu sein und sich abzugrenzen. In der Schwarzen Szene versammelten sich jedoch überwiegend – sorry, aber das ist meine Erfahrung – bildungsinteressierte Leute, die nachdachten und zu eben dem Schluss kamen, den ich oben als „Bewusstsein“ beschrieben habe. Themen wie Tod (Totenköpfe, Friedhöfe und totgeschminkt) und Krieg (Blut, Horror) resultierten ganz sicher aus dem damaligen Zeitgeist. Das düstere Schwarz stand im Gegensatz zur vermeintlich heilen, bunten Welt und es wurden sehr bewusst Tabus gebrochen, um die vermeintlich heile Welt der Erwachsenen zu zerstören. Eine Lesung oder gar ein Treffen auf dem Friedhof ist mir niemals begegnet. Aber das mag von Region zu Region unterschiedlich gewesen sein.
Bevor ich einen Roman schreibe noch schnell ein anderes Thema ;-) : Das mit der Band, die was vormacht, war damals nicht anders. Die Leute haben entweder wie Robert Smith getanzt oder wie Martin Gore. Ich liebe übrigens Elektrobands wie VNV Nation oder Project Pitchfork ebenso wie viele andere musikalische Strömungen der heutigen Szene. Die Vielfalt ist eine Bereicherung und Ronan Harris ist beispielsweise einer der wenigen Szenekünstler, die vollkommen natürlich auftreten und deren Texte noch Inhalte haben.
@Vizioon
Chris Corner ist IAMX. Hier ein Link zu einem Video, in dem es extrem androgyn zugeht:
http://www.youtube.com/watch?v=G-jMWzfj9gM
@ Robert
Es ist fast unmöglich, Dinge weiterzugeben, die dem Zeitgeist entgegenstehen. Fun und Party haben eben überhand gewonnen- auch in der Szene. Nur noch wenige Jugendliche hören sich die Nachrichten an. Wenn heute im Fernsehen ein Bericht über die atomare Auf- oder Abrüstung kommt, dann wird umgeschaltet. Damals haben wir nach solchen Nachrichten abends im Bett gelegen und hatten eine Scheiß Angst.
Dave Gahan…meinte ich…nicht Martin Gore… ;-)
Orphi: Danke für den Link. Ich mag den Song sogar. Ich verstehe aber trotzdem nicht, worum es gehen soll. Würde der Song nicht funktionieren, wenn die Sängerin als Frau auftreten würde?
@ Vizioon
Ich schätze, es ist ein wenig das Theater-Konzept von IAMX. Hat nichts mit „funktionieren“ zu tun, denke ich, eher mit Show (Show im Sinne von Kunst). Ich find es trotzdem ganz nett. Vielleicht findest du in diesem Interview Antworten…
http://www.youtube.com/watch?v=lByvoyIpmeI
Jetzt bin ich schon ein paarmal hier vor dem Kommentarkästchen gesessen, hab angefangen zu tippen und bin irgendwie nie so zu einem anständigen Ende gekommen *g*
Die immer nachkommenden Kommentare machens auch nicht leichter …
Oberflächlich gesehen schätze ich auch daß für viele Gothics heutzutage das androgyne Erscheinungsbild eine reine Modesache ist, ohne große Hintergründe oder persönliches Statement. Provokant empfinde ich das auch eher weniger – dafür ist es szeneintern ein oft anzutreffender Anblick. Wie es mit Aussenstehenden aussieht, da gestehe ich vielleicht ein wenig betriebsblind zu sein da mir regelrecht ein „ja was hammse denn?“ durch den Kopf jagt wenn jemand – nur als Beispiel – Herrenröcke nicht für eine völlig normale Sache hält und entsprechend kariert dreinblickt *gg*
Zwischen den Herrschaften die sich rein aus Modegründen androgyn geben, gibts es dennoch einige die ihre persönlichen Hintergründe für so ein „Styling“ durchaus auch haben. In meinem Bekanntenkreis gibts ein paar davon. Neben Transsexuellen, die sich in ihrem biologischen Körper einfach fehl am Platze fühlen, gibt es auch Leute die sich entweder als geschlechtsneutral empfinden, oder beide Anteile in ihrem Charakter haben. Im deutschsprachigen Raum findet man dazu kaum Quellen im Netz, englisch-sprachig wird man fündig. Erstgenannte bezeichnen sich als „Neutrois“, letztere sind androgyne Menschen. Unter dem Begriff „Gender Studies“ wird man auch fündig, und ich finde es einmal ein faszinierendes Thema, andererseits ne gute Sache wenn so empfindende Menschen sich auch optisch ausdrücken möchten. Finde ich ehrlicher sich selbst gegenüber, und man möchte sich ja auch wohl fühlen in seiner Haut ;)
Das ist im übrigen auch keine moderne Erscheinung, bei den Indianern wurden beispielsweise solchen als „Two Spirits“ bezeichneten Menschen besonderen Respekt entgegengebracht, und sie bekamen im Stamm recht hoch angesehene Positionen, auch Kleidungstechnisch hatten diese Leute die Freiheit sich bei beiden Geschlechtern zu bedienen. Erst das Zusammentreffen mit der europäischen Kultur hat die Akzeptanz der Two Spirits ausgelöscht.
In anderen Kulturkreisen gab es ähnliches, nur sind mir die Indianer grade am präsentesten im Gedächtnis. Vielleicht schreibe ich mal nen Artikel über das …
Zugegeben geht das einen ganzen Schritt weiter als nur die oberflächliche Zurschaustellung von Androgynität, der absolute Großteil der Menschheit wird sich freilich mit seinem biologischen Geschlecht alleine ganz gut wohl fühlen, aber egal wie spinnig das Thema auf manche wirken mag – es ist nicht notwendigerweise nur ein Styling-Phänomen, aber darüber kann nur die Person die sich so gibt Auskunft geben, obs Modegag sein soll oder etwas mehr als das. Solche Selbstdefinitionen sind auch eine sehr persönliche Angelegenheit die man kaum diskutieren kann, man sollte aber doch jedem seinen Freiraum lassen, und genau deswegen bin ich schwer fürs Geschlechterverwischen.
Inwieweit Androgynität als optisches Ideal in den Szeneanfängen schon Thema war kann ich kaum beurteilen, dafür war ich in den 80ern gerade noch zu jung, jedoch empfinde ich die Mode der 80er teilweise schon als androgyn – dabei denke ich an Schulterpolster und recht weite, fließende Schnitte. Absicht war sicher nicht dahinter, aber wenn ich alte Burda-Hefte heute wieder durchblättere, fällt mir sowas irgendwie auf. In der normalen, alltagstauglichen Mode sind diese Stilelemente natürlich eher dezent, aber gerade Künstler und andere Exzentriker haben damals – wie heute – das was gerade „In“ ist eben auf die Spitze getrieben. Teil der „Show“ – wie Orphi schon sagte – übrigens, geniales Video :) musikalisch wie optisch finde ich es wunderschön!
Wobei ich die Protagonisten weniger als androgyn bezeichnen würde, das ist schon ausgewachsenes Cross-Dressing. Androgynie heißt ja, Merkmale von beiden Geschlechtern zu zeigen und damit in gewissem Sinne schwer einschätzbar zu sein, ob Mann oder Frau.
Vielleicht würde die Musik an sich, alleine „funktionieren“, aber als Musiker macht mans ich (sollte man meinen) ja auch Gedanken dadrüber, was man aussagen mag, und Show – in Form von auf der Bühne oder Video, oder Artworks fürs Album – ist ein zusätzliches Medium dafür. Warum also nicht nutzen? Ich persönlich mag es wenn derart „mulitimedial“ alles ausgeschöpft wird.
Nachtrag: in der zeitgenössischen Mode ist das Thema, weibliche Stilelemente bei Herrenkleidung durchaus aktuell, so hab ich neulich in der Textilfachschule bei uns Entwürfe gesehen zu eben diesem Thema ;) – und wieder mehr szenebezogen: neulich hab ich einem lieben Bekannten einen Herren-Reifrock genäht ;) – und er liebt ihn *g*
Orphi: Schwer ja, unmöglich, nein. Wenn man so möchte, ist doch das, was die Gothic-Szene auszudrücken versucht, aktueller denn je. Wie du schon richtig beschrieben hast, entwickeln wir uns zu reinen Spaß-Gesellschaft, die ihre Freizeit damit verbringt zu konsumieren. Ebenso schwierig wie es ist Dinge weiterzugeben die dem Zeitgeist entgegen stehen ist es doch, Dinge zu etablieren die dem Zeitgeist entgegenstehen, ganz genauso wie Gothic in der 80ern, die Welt war bunt und grell – Gothic war das Gegenteil davon. Deswegen ist es ultimativ wichtig Dinge weiterzugeben, obwohl, oder eben weil sie dem Zeitgeist entgegenstehen. Das ist das, was ich damals empfand (nicht mit den gleichen Worten wohlgemerkt) als ich Depeche Mode oder The Cure hörte, mich schwarz kleidete und mich der Freizeitgestaltung meiner „Artgenossen“ entzog. Resignation ist leicht, aber tödlich für eine Subkultur und bei der Gothic-Szene würde ich das sehr schade finden.
@Rosa: Uff. Ein wirklich schwieriger Kommentar meine Liebe. Grundsätzlich finde ich aber auch, das menschliche Andersartigkeit (ich fand jetzt kein besseres Wort) immer öfter zum Modetrend verkommt. Androgynität, Bulemie, Homosexualität in jedem Bereich gibt es Mitläufer die aus den Andersartigkeit ein Phrase machen, sie bis zur Lächerlichkeit degradieren. Ich finde es künstlerisch Grenzwertig so etwas zur Bühnenshow zu inszenieren, denn das hat absurde Ausläufer wie man bei Tokio Hotel und seinen Fans gut nachzeichnen kann.
Wieder einmal fehlt Hintergrund und Aussage, was diese Diskussion auch so interessant macht. Denn die Grenzbereiche machen es Provokativ und zwar solange, bis sich der Trend erschöpft hat und auch in der breiten Masse akzeptiert wird. Wollen wir das überhaupt? Es scheint unausweichlich das angesichts immer extremerer Multimedialer Präsenz eine gewissen Akzeptanz herrscht. Ich schweife sicherlich gerade ab.
Sehen wir es pragmatisch: Auch ich trage teilweise „Frauenkleidung“, weil sie für Männer wohl nicht vorgesehen scheint. Beispiel: Pikes, Pluderhosen oder Netzoberteile. Pike gab es bis vor rund 2 Jahren nur bis maximal Größe UK 8 und Pluderhosen findet man hauptsächlich in der weiblichen Ecke der Bekleidungsbranche. Netzoberteile sind vorwiegend in Frauengrößen zu finden. Deswegen finde ich weibliche Stilelemente in der Herrenkleidung und gerade in der Gothic-Szene unausweichlich irgendwie ;)
Rein stilistisch habe ich aber nichts gegen diesen Trend einzuwenden, weil es teilweise einfach harmonisch aussieht und ich es ästhetisch finde, wenn es zum Typ passt. Auf der Bühne, in der Szene oder wo auch immer.
Ich denke man sollte davon Abstand gewinnen das Geschlecht nach reinen Äußerlichkeiten zu beurteilen, wenn man jetzt von Schminke, Klamotten oder der Figur spricht (außer den Brüsten natürlich). Manchen Menschen sind eben von der Natur aus androgyn vorgesehen, warum nicht die eigene „Art“ fokussieren?
@ Rosa Chalybeia
Das mit den Indianern finde ich interessant. Wusste ich noch gar nicht. Trotzdem: Diese Transsexuellen-Geschichte steht auf einem ganz anderen Blatt. Das hat nichts mit dem androgynen Mode-Style in Kunst und Szene zu tun, der hier gemeint ist.
Das einzige Androgyne, was ich von den „Anfängen der Szene“ in Erinnerung hab, ist der Lippenstift von Robert Smith. Er hat mal in einem Interview gesagt, dass er sich einfach so häßlich fand und sich deshalb angemalt hat. Die Jungs haben das dann eben einfach alle nachgemacht. Außerhalb der Szene gab es mit Culture Club und Co auch ein paar Exoten. Aber in den 80ern haben sich ja viele Bands mit bunten,schrillen Outfits einen Namen gemacht.
Zum Thema Provokation: Bei Wikipedia steht beispielsweise, dass Brian Molko (Placebo) mit seinem androgynen Style gegen seine Eltern rebellieren wollte und später seine Bisexualität öffentlich gemacht hat. Allerdings neige ich dazu, imagebildeneden Aussagen von Künstlern keinen Glauben zu schenken. Mir reicht es, wenn sie gute Musik machen.
@ Robert
Manchmal frage ich mich, ob die Schwarze Szene das ausdrücken wollte/will oder ob das doch nur reininterpretiert ist. Vielleicht machen wir uns ja auch was vor und wollten früher – so wie es shan dark vermutet – nur anders sein, wie jeder Jugendliche. Jetzt sind wir alt und weise :-) und wollen das letzte Stück Jugend nicht loslassen. Um beides unter einen Hut zu kriegen und vor uns selbst die noch immer schwarze Kleidung zu rechtfertigen, geben wir dem Ganzen einen tieferen Sinn. Könnte doch sein…
Unabhängig davon kann und sollte man Werte natürlich weitergeben. Das funktioniert bei den eigenen Kindern, aber nicht bei einer anonymen Masse junger Szenegänger, mit denen man ja nicht wirklich in Kontakt kommt. Vielleicht wäre das eine Aufgabe der Künstler in der Szene. Allerdings graut es mir mittlerweile, wenn ich die Szeneblätter aufschlage. Sorry für die abgedroschene Phrase aber: Geist ist geiler!
Orphi: ja, mir ist bewusst daß die ganze Gender-Geschichte weitaus mehr ausholt als das eigentliche Thema um stilistische Androgynie, da aber das Fehlen von ernsthaften Beweggründen für solche Selbstdarstellung auch mit angesprochen wurde, wollte ich das mal so einwerfen. Eben weils nicht nur Modegag ist – auch wenn die Modeerscheinung wohl den größten Teil ausmacht.
Ich wollte da auch die Gegendarstellung zum Modetrend ansprechen – um damit auf Roberts Antwort weiterzuleiten. Ich stimme Dir dahingehend ja auch völlig zu daß solche Modeformen kritisch sind, in besonderem Maße grade bei Sachen wie Ritzen oder Magersucht, da ist Mode-Androgynie zwar noch recht harmlos, aber dennoch: Mode ohne Substanz. Künstlerisch damit umzugehen halte ich nicht grundsätzlich für fragwürdig, da wo man auf den Modetrend aufspringt, natürlich schon, aber echte Kunst hat für mich immer Hintergrund und Aussage, und ich habe mich schon mit einem Künstler unterhalten der Androgynie als zentrales Thema verarbeitet und selbst androgyn ist – im charakterlichen Sinne. Sowas ist meiner Meinung nach keinesfalls fragwürdig. Bei Bühnenshows oder Musikvideos kommt es eben auf den Künstler an und dessen Beweggründe. Klar daß bei gecasteten Bands da nicht viel wahrhaftig Echtes vorhanden ist.
@Klamotten: ja, recht viel an szenebezogenen Sachen ist mehr von weiblichen Stilelementen geprägt, und daß man sich mal im Regal des anderen Geschlechts bedient ist doch völlig OK – ich wär auch sauer wenn man mir meine Männerhemden, meinem tollen australischen Hut oder gar meine Jasons absprechen würd ;) – und nen Nadelstreifenanzug hab ich auch im Schrank, und der war der Hochzeitsanzug meines Vaters in den er nicht mehr reinpasst :D – und ja, ich trag das Ding :D
Richtig schön finde ich Deinen letzten Satz, Robert: Ich denke man sollte davon Abstand gewinnen das Geschlecht nach reinen Äußerlichkeiten zu beurteilen, wenn man jetzt von Schminke, Klamotten oder der Figur spricht (außer den Brüsten natürlich). Manchen Menschen sind eben von der Natur aus androgyn vorgesehen, warum nicht die eigene „Art” fokussieren?
Und kann dem nur völligst beipflichten :)
Nochmal zurück zu Orphis letztem Absatz: die Interpretation mit dem nicht aufgeben-wollen der Jugend mag sicher für viele zutreffen, ich kann jetzt nur für mich allein sprechen, aber ich muss sagen je älter ich geworden bin, umso exzentrischer bin ich geworden, und damit fühlte ich mich Stück für Stück wohler und mehr „ich selbst“. Oberflächlich zeigt sich das im Stil – den möcht ich für mich nicht missen, aber auch charakterlich hab ich durch viele Spinnereien mehr zu mir gefunden, fühle mich aber gerade dadurch reifer und mehr in mir selbst ruhend. Weil ich mir erlaube zu tun und zu lassen was ich mag – beruflich hab ich auch keine Einschränkungen in absehbarer Zeit, und bin da auch froh drum, auch wenn ich die Notwendigkeit vom Kompromissen durchaus einsehe wenn es nötig ist.
Am Rande bemerkt: ich bin grad von ner herrlich tuntigen Rocky Horror Show Inszenierung frisch daheim und fand es spitze – tolle Schauspieler, und passt ja zum thema *g*
Falls ich das in dieser Diskussion noch nicht erwähnt habe (habe ich nicht, oder?): Ich finde das Verwischen der Geschlechter weder bedenklich oder fragwürdig noch sonstirgendwas. Bei manchen sieht es gut aus, bei manchen doof. Von mir aus können Leute auch im Biene Maja Kostüm rumrennen, wenn sie meinen, dass das ihre Persönlichkeit unterstreicht. Man muss nicht mit jedem auf einer Wellenlänge sein.
Die Gender-Geschichte sei hier deutlich rausgenommen. Ich bleibe dabei: Das ist etwas ganz anderes als reines Styling und hat sicher auch nichts mit Provokation zu tun.
Ich verstehe nicht ganz, wohin sich diese Diskussion entwickelt. Aber für mich steht fest: Ich wüßte auch vor dem Freilegen des primären Geschlechtsbereichs gerne, ob ich es mit Frau oder Mann zu tun habe. Unter anderem deswegen, weil ich nicht auf Sex mit Männern stehe.
@Vizioon, Du bist einfach so herrlich erfrischend.
Ich steig jetzt hier auch aus.
@shan dark: danke :)
Wie dem auch sei, als Ausstiegskommentar war das nicht gemeint. Ich würde mich freuen, wenn Du trotzdem Deine Meinung mitteilen würdest.
Gegenfrage: muss es denn grundsätzlich immer aufs Abklopfen nach potentiellen (Sex-)Partnern rauslaufen?
Ich versteh ja voll und ganz daß der 1000% Hetero jetzt nicht grade auf androgyne Leute abfährt sondern eben deutliche Geschlechtsmerkmale am in Frage kommenden Partner anziehender findet, nur ist das doch nicht alles? Also es gibt auch Leute die man auf irgend eine Art faszinierend finden kann ohne daß sexuelle Anziehung im Spiel sein muss? Oder ticke ich da einfach so viel anders als andere Menschen?
Grundsätzlich nein. Aber ich gehe mit Männern anders um als mit Frauen. Und was hat das mit Faszination zu tun? Ich finde Andy Warhol faszinierend, aber da ich nicht homosexuell bin, beschränkt sich dies auf sein Werk.
@Vizioon: Es geht mir hier auch hautpsächlich um die äußerlichen Merkmale und nicht die sexuelle Ausrichtung, wenngleich auch das eine das andere in gewisser Weise bedingt.
Ich denke die Faszination entsteht dadurch, was man mit äußerlichen Stilmitteln erreichen kann. Eine Faszination für das Werk, nicht unmittelbar für den Menschen der die Geschlechter so geschickt verwischt.
@Rosa: Ich stimme Dir zu, ich finde manche Menschen ebenfalls faszinierend oder auch attraktiv ohne einen sexuellen Hintergrund. Die Grenzen sind natürlich irgendwo fließend, wenn wir uns auf die äußerlichen Merkmale beschränken. Denn wann ist die Grenze zwischen Faszination und sexueller Anziehung überschritten?
Orphi: Eine pragmatische Betrachtung ist ebenso angenehm wie die Auseinandersetzung damit. Ich finde es wichtig (ohne direkten Bezug zu einem deiner Kommentare) diese pragmatische Meinung von Zeit zu Zeit zu überprüfen um seine Meinung eventuell zu korrigieren.
@Robert Das mit dem Prgamatismus und dem Fatalismus ist eine Alterskrankheit. Die Welt wird sonst irgendwann zu komplex, die Gedanken drehen sich nur noch – zu viele Baustellen, zu viele Details, zu viele Abzweigungen – und man kommt nicht mehr dazu, über existentielle Dinge wie das Mittagessen nachzudenken. In ruhigen Minuten (wo sind sie nur alle hin?) sieht die Sache ganz anders aus. Meistens klingelt aber dann das Telefon und irgendwer fragt, ob man eine Versicherung abschließen will….seufz ;-)
Orphi: Was bedeutet, das die Jugend die Erkenntnis gepachtet hat? Pragamatismus ist durchaus positiv, und widerspricht oft dem Fatalismus.
Nein, aber die Jugend bekommt in der Regel ihr Mittagessen von den Eltern gekocht und hat mehr Zeit über diverse Dinge des Lebens nachzudenken als ein Erwachsener, der eine Firma führt, Kinder hat, ein Haus abbezahlen muss und die Steuererklärung nicht versteht.
Orphi: Erkläre mir bitte das Leben. Der Erwachsene, der sich eine Firma aufgebaut hat, Kinder gezeugt hat, ein Haus gekauft hat, und Steuern zahlen muß (btw.: es gibt Steuerberater), der will nur überleben?
Wie passe ich denn da hinein, keine Firma, kein Haus, keine Kinder, keine Steuern. Also ich lebe?
@Vizioon
Du musst auch nicht immer alles so wörtlich nehmen. Ich wollte damit sagen, dass man angesichts zahlreicher Aufgaben manchmal keine Zeit hat, tiefer über irgendwas nachzudenken und dann eine pragmatische Antwort wählt. Ich weiß, dass es Steuerberater gibt. Kostet mich jeden Monat ne Menge Geld.
Orphi: Nein, das sehe ich nicht so. Pragmatismus ist keine Alterskrankheit um den zu komplexen Gedanken auszuweichen. Im Gegenteil, ich sehe das eher als Möglichkeit Gedanken zu verschieben ohne sie gleich zu verdrängen oder durch falsche Meinungen zu ersetzen. Da du offenbar aus Erfahrung der komplexen Gedanken sprichst, nehme ich auch an, das du deinen Kanal bereits gefunden hast, das Schreiben. Vielleicht solltest du komplexe Gedankengänge nicht als Stigmata sehen, sondern als Möglichkeit. Das Schreiben hilft dabei, sich nicht im Kreis zu drehen.
@Robert
Wodurch entstand der Eindruck, dass ich komplexe Gedankengänge als Stigmata sehe? Wenn du Stigmata im Sinne von einer wiederkehrenden, quälenden Last meinst, dann würde ich eher die zeitraubenden Verpflichtungen und Aufgaben des Alltags dort einordnen, nicht die komplexen Gedankengänge.Die sind mir sehr vertraut und tun auch nicht weh ;-) Ich stimme dir zu: Das Schreiben ordnet die Gedanken, bietet der Phantasie einen Platz, wo sie sich austoben kann und nebenbei eine Möglichkeit, Themen anzusprechen und öffentlich zu machen. Auf emotionaler Ebene ist es (für mich) jedoch eher die Musik, die fürs Gleichgewicht wichtig ist und das „Drehen“ stoppt.
Das Drehen entsteht dadurch, dass keine Zeit zum Denken bleibt. Vielleicht hast du das irgendwei falsch interpretiert.
Ganz sicher sogar. Der Nachteil beim unterhalten über das geschriebene Wort ist das fehlen jeglichen visuellen Bezugs zu seinem Gegenüber, wodurch Fehlinterpretation und Missverständnisse unausweichlich erscheinen.
Ich habe Stigmata gewählt, weil es so klang, als wären die Gedanken unausweichlich, belastend und wiederkehrend. Daher habe ich dich falsch verstanden, denn das ist bei Dir ja offenbar nicht so. Die Rolle der Musik hingegen kann ich nachvollziehen, denn die hat so manchen Einfluss auf mich und funktioniert für mich immer als Gefühlsverstärker und ist in der Lage Emotionen entgegenzuwirken oder diese zu fokussieren um sich dem Kern der Sache zu näher.
Oder sie zieht dich von der Außenwelt in die Innenwelt, wo die Batterien wieder aufgeladen werden. O-Ton meines Sohnes, der mich mitleidig ansah, als ich ihn ausgepowert und ziemlich fertig zur Schule gefahren hab:“Soll ich mal den Peter Spilles an machen?“ :-)
Orphi: Wie alt ist dein Sohn, das so wahre Worte seine Lippen verlassen? Ich sag ja immer: Kindemund tut Wahrheit kund :)
@Orhi: „angesichts zahlreicher Aufgaben manchmal keine Zeit hat, tiefer über irgendwas nachzudenken und dann eine pragmatische Antwort wählt.“ Nochmal: Über was muß ich denn nun tiefer nachdenken?
@Vizioon
Versteh ich noch immer nicht. Das musst du doch wissen, ob und worüber du nachdenken willst oder nicht. Es steht mir wohl kaum zu, dir da irgendwelche Vorschriften/Vorschläge zu machen. Es ging darum, warum ich eine pragmatische Antwort gegeben habe.
@Robert
Er ist 13, hatte aber schon mit 10 raus, welche CD bei mir zu welchem Ergebnis führt ;-)
Ein findiger Junge, sehr pragmatisch. Aber er hat recht, Musik ist die Hand die dich aus dem Wasser zieht oder auch die, die dich noch tiefer runterdrückt. Eine Frage der Zeit bis Warnhinweise auf Musik-CDs zu finden sind :)
Orphi: Ich beziehe mich auf Deine Aussagen. Ich finde es im Prinzip durchaus als Ziel des Lebens, sich eine Firma aufzubauen, Kinder zu zeugen, ein Haus zu bauen, und Steuern zu zahlen. Deiner Aussage nach hat das aber mit dem Leben nichts zu tun. Also frage ich mich: was denn?