Pfingsten ohne Wave-Gotik-Treffen? Am vergangenen langen Wochenende war das mein gelebter Alptraum. Menschen aus aller Welt treffen, Konzerte von gruftigen Bands genießen und subkulturelle Partys bis in die frühen Morgenstunden. Ausgefallen. Einige Gruftis konnten sich jedoch trotzdem nicht zügeln. Sie sind nach Leipzig gefahren und haben sich mit ihren Freunden beim Viktorianischen Picknick getroffen, sind im Heidnischen Dorf gewesen oder haben sogar in einigen Kneipen das Tanzbein geschwungen. Die sozialen Medien sind voll von Bildern und Videos, wie toll es angeblich in Leipzig war. Corona, so mein Eindruck, war etwas, über das man nicht geredet hat. So etwas wie ein Fluch, der einen nur ereilt, wenn man ihn dreimal hintereinander ausspricht. Das war allerdings noch vergleichsweise harmlos gegenüber dem, was Pfingstsonntag in Berlin passiert ist. Ist das Bedürfnis, den Alltag hinter sich zu lassen und ausgiebig zu feiern, wirklich so stark geworden?
Rave-Demonstration zum Erhalt der Clubkultur in Berlin
In Berlin feierten rund 3000 Raver auf einem See eine Demonstration für den Erhalt der Rave-Kultur. Bei der Schlusskundgebung war das ganze Ausmaß der Veranstaltung zu sehen, direkt am Fuße des Urban-Krankenhauses. Ein bizarres Bild. Während man sich im Krankenhaus unter strengen Hygienevorschriften um Kranke kümmert und Besuche der Patienten stark eingeschränkt sind, feiert man direkt vor den Fenstern der Klinik ausgelassen zu wummernder Musik. Die Veranstalter, die Rebellion der Träumer, entschuldigte sich im Nachgang und räumte ein, viel falsch gemacht zu haben. Es ist fraglich, ob diese Aktion dem Erhalt der Clubkultur nicht mehr geschadet hat als dass sie Nutzen brachte.
Eine Dokumentation des Y-Kollektivs gibt Einblicke in die Beweggründe der Besucher und Veranstalter illegaler Rave-Parties in Leipzig, die trotz Pandemie feiern wollen. Schlauer sind wir danach nicht, auch will sich bei mir kein Verständnis breit machen, in diesen Zeiten ausgelassen feiern zu gehen, noch nicht einmal im Ansatz.
Die Sucht, dem Alltag zu entfliehen
Im vierten Monat der Pandemie werden die Entzugserscheinungen immer stärker. Soziale Kontakte, bei lauter Musik dem Alltag zu entfliehen, zu tanzen, zu feiern und die Seele baumeln zu lassen, alles das fehlt. Jetzt, wo die schlimmen Bilder von Militär-LKWs, die Leichen in Italien zu den Krematorien fuhren, im Gedächtnis verblassen, hat man offenbar den Respekt vor der Pandemie verloren. Die Nachrichten berichten seit Wochen über Lockerungen und zählen auf, was geht und was nicht geht. Es werden Demonstrationen von Kritikern gezeigt, die die Verhaltensregeln infrage stellen und sich nicht selten in hanebüchenen Verschwörungstheorien verlieren. Die Stimmen anerkannter Virologen scheinen unterzugehen.
„So schlimm ist es ja gar nicht!“ Partygänger rechtfertigen ihr Verhalten mit einer Sammlung von passenden Fakten zu ihrer Einstellung. Niedrige Ansteckungszahlen, die Grenzen öffnen wieder ihre Schlagbäume, Krankenhäuser mit freien Kapazitäten und seit Wochen fühlt man sich kerngesund. Was soll da schon passieren?
Ich muss zugeben, dass auch ich diese Gedanken verfolge. Obwohl ich als Misanthrop, Nerd und Couchkartoffel gerne die eigenen vier Wände um mich habe, fühle ich mich trotzdem von den Leuten, die Pfingsten in Leipzig waren, getriggert. Hat man was verpasst? Endlich mal wieder Leipzig sehen! Und die ganzen coolen Leute treffen, die in Leipzig wohnen! Letztendlich gewinnt aber das Verantwortungsbewusstsein für mich, meine Liebsten und Freunde und ja, selbst für meine „verhassten“ Mitmenschen. Mir macht die Pandemie Angst, ich finde es egoistisch und naiv, zu glauben, man hätte alles unter Kontrolle, wenn man mit seiner Maske und dem Handhygiene-Gel nach Leipzig fährt, um dort am „Nicht-WGT“ zu partizipieren.
Allerdings bin ich mir auch unsicher, wie lange dieses Gefühl noch anhält. Selbst bei mir. Und ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die mehr davon leben, sich mit anderen zu treffen und die es deutlich nötiger haben, vor dem Alltag zu fliehen. Wann ist eine Pandemie zu Ende? Wenn man einen Impfstoff findet? Wenn die Regierung beschließt, dass es vorbei ist? Oder, wenn man der einzige ist, der noch zu Hause geblieben ist?
Wizard of Goth – sanft, diplomatisch, optimistisch! Der perfekte Moderator. Außerdem großer “Depeche Mode”-Fan und überzeugter Pikes-Träger. Beschäftigt sich eigentlich mit allen Facetten der schwarzen Szene, mögen sie auch noch so absurd erscheinen. Er interessiert sich für allen Formen von Jugend- und Subkultur. Heiße Eisen sind seine Leidenschaft und als Ideen-Finder hat er immer neue Sachen im Kopf.
Braucht man denn unbedingt ein WGT, um „sich dazugehörig zu fühlen“???
Ja, dieses Jahr ist -irgendwie- anders. Kein WGT, keine sonstigen Festivals und keine Konzerte. Aber dies schränkt mich persönlich nicht, wie scheinbar doch so viele andere, in meiner gewohnten Lebensweise ein!… Ich brauche kein WGT, um mich dazugehörig zu fühlen.
Ich brauche kein WGT, um mich mit Gleichgesinnten zu umgeben, da unser Freundeskreis zum Großteil aus denselben besteht. Und das nicht nur zu Pfingsten, sondern das ganze Jahr über.
Ich brauche kein WGT, um ich zu sein, denn das bin ich auch an allen anderen Tagen des Jahres. Ich fliehe in keine „andere“ Welt, denn ich bin immer so! Immer schwarz…
Meine Playlist besteht auch jeden Tag außerhalb eines Festivals aus derselben Musik. Mit ein wenig Recherche lerne ich auch Neues und Altes (neu) kennen. Das Einzige, was mir persönlich fehlt, ist ausgiebig zur Musik zu tanzen. Sich, für meinen persönlichen Geschmack, etwas extremer oder extravaganter zu kleiden, als es in meinem Berufsalltag möglich ist… Jedoch schlüpfe ich nicht in irgendwelche „Kostüme“ oder Rollen. Schon gar nicht für Andere. Schon gar nicht um irgendeinem Klischee oder Ideal zu entsprechen. Ich habe an der Sache nicht verstanden, warum man unbedingt auf Biegen und Brechen etwas veranstalten und dort hinfahren muss, nur um sagen zu können: „ICH war dabei!“. Vielleicht bin ich auch nicht „true“ genug oder zu „spießig“?! Aber ich habe kein Problem damit, mal ein Jahr auszusetzen…
Seelchen : nein, braucht man nicht, es gibt verschiedene Rahmen sich im subkulturellen Kontext zu treffen. Das kann das WGT sein, oder eine Keipe , Club, oder woanders.
Die Pandemie ist ein erstzunehmendes Problem, dass glücklicherweise in Leipzig derzeit abgeflacht ist. Wenn ich die Zahlen in Berlin sehe, sieht man aber auch die Tücken der gefühlten Sicherheit. Ich fand es nicht gut, dass viele doch hergekommen sind und einige Orte in Leipzig sehr voll waren. Ich selber habe als Leipzigerin einige Angebote am Wochenende angenommen, jedoch bin ich Menschenschlangen vorbei, schneller als sonst durch die Innenstadt bei meinen nötigen Besorgungen, und schloss mich nicht noch der Indoordisko bei einem bestimmten Event an. da waren eher meine Nerven bezüglich der Hygiene zuende. Wer weiß, wie in einer Woche die hiesigen Krankheitszahlen aussehen.
Viele nehmen die Gefahr durch Viren nicht ernst, da wird oft „Dreck“ mit „Dreck“ verwechselt und gar Impfen verweigert, so wird ein Impfstoff nicht automatisch Herdenschutz auslösen. Das sieht man zum Beispiel an den Masernausbrüchen in den letzten Jahren, durch die verweigerten Impfungen. Auch diese Krankheit hat Folgeerscheinungen und schwächt einen in Zukunft. Und wenn wir mit der Restwahrscheinlichkeit einer Ansteckung trotz Impfung kommen übersteigt es meine Kenntnisse. Ich denke nur, was die Wahrscheinlichkeit einer schweren Krankheit verhindert, lohnt sich.
Ich sehe in solchen sorglosen Reaktionen eher Wunschdenken a la „Ich will keine Gefahr haben, also ist da auch keine Gefahr“. Wenn dazu noch das Argument höre, man hätte ja keinen Syntome also sei alles ok, werde ich wütend, weil es ja gerade eine bekannte Eigenheit von Covid-19 ist, vorm Syntomausbruch ansteckend zu sein. Einige wollen es nur verstehen, wenn es in ihrem Umfeld passiert. Dabei kann ich mir schlecht vorstellen, dass sämtliche Regierungen, ohne tiefen Anlass ihre hoch und heilige Wirtschaft gefährden würden, wie es derzeit der Fall ist.
Ich bzw wir haben die Beobachtung gemacht, das einige Gäste in der Gastronomie schon kein Gefühl mehr für die Regeln haben. Da braucht es also gar keine Party. Kein Mundschutz außerhalb des Tisches, kein Abstand und/oder Mundschutz am Buffet, es wird in und durch den Abstand gelaufen… und dies haben wir nicht nur in einem Lokal erlebt. Solange alles gut geht, nochmal Glück gehabt. Aber wenn’s passiert, und man kanns dem Wirt, Veranstalter etc zuordnen…
Wir wären diese Jahr aufgrund diverser persönlicher Umstände ohnehin nicht zum WGT gefahren, aber trotzdem haben auch wir es ein wenig vermisst. Allerdings gehören wir auch zu dem Typus Mensch, der zwei Monate lang nur einmal pro Woche zum Einkaufen raus geht und trotzdem ganz wunderbar mit der Situation klar kommt, auch wenn sich nun gerade mitr dem verbesserten Wetter auch bei uns die Lust auf mehr wieder einstellt. Aber anders als viele andere Leute in unserem Umfeld sind uns die Gefahren von COVID-19 bewusst und geben den meisten Versuchungen nicht nach, trotzdem in unserer Stadt die offiziellen Neuinfektionen seit fast zwei Wochen bei 0 liegen. Auch uns fällt auf, dass die Leute schon wieder sehr leichtsinnig agieren…
Ich glaube, dass die Pandemie gezeigt hat, wer Gemeinsinn hat und wem es nur auf den eigenen Spaß an ankommt. Leider hat sich unsere Gesellschaft in den letzten 30 Jahren immer mehr weg von einer Gemeinschaft, hin zu einer Ansammlung von Individuen, deren oberstes Ziel der eigene Vorteil ist, entwickelt. Auch die wenigen Initiativen für mehr Gemeinsinn (z.B. das Einkaufen für ältere Menschen) machen mir da trotz allem nur wenig Hoffnung.
P.S: das „wir“ ist nicht als Pluralis Majestatis zu verstehen. :D
„Ich sehe was, was du nicht siehst….“
Berlin halt. Da galt ja auch jahrelang die Loveparade als „Demonstration“.
Ich habe manchmal das Gefühl, das wir in einer absolut verweichlichten Gesellschaft leben, wo wegen abgesagten Festivals eine kleinkindliche Trotzreaktionen folgt. Wo man wegen 30 Minuten Gesichtsmaske tragen im Supermarkt, seine Grundrechte eingeschränkt sieht und zu Protesten aufruft. Rumgeheule, weil der Friseur zu hat – wo bin ich denn gelandet? Social Distancing ist ein Geschenk. Kein WGT dieses Jahr – ja blöd, aber es gibt halt echt andere und wichtigere Dinge im Leben.
Mich schränken seit Jahren andere Sachen ein, z.B. Nazis, AfD-Wähler, ein kaputtes Gesundheitssystem, der Abbau unseres Sozialstaates, Angriffe gegen Sanitäter*innen/Feuerwehr/Pflegekräfte, Unterwanderungen von Polizei und Bundeswehr, usw.
Ich würde es ja schön finden, wenn man von diesen Leuten die Personalien aufnimmt, und diese im Falle einer zweiten Welle mal warten lässt. Oder wenn man sie, ohne Schutzkleidung, mal in den Isolationsstationen in den Krankenhäusern arbeiten lässt. Vielleicht kapieren es dann einige.
Wichtlhexe, Dein Kommentar hat meine volle Zustimmung… Ich als Ur-Berlinerin habe immense Fremdscham empfunden, als ich die Bilder dieser ausgeuferten Boot-„Demo“ gesehen habe. Ich werde dasGefühl nicht los, dass die Menschheit immer bekloppter statt intelligenter wird, man sollte ja eigentlich aus früheren Fehlern lernen und sie nicht wiederholen oder gar noch übertrump(f)en… Soziale Intelligenz oder Empathie, Mitdenken oder Hilfsbereitschaft scheinen aussterbende Tugenden zu sein.
Ich habe in den vergangenen Wochen während der Corona-Pandemie mein Weltbild doch sehr ins Negative zurechtrücken müssen. Dieses hat sich mit dem unmöglichen Spree-Rave nur noch verfestigt. Denn es zeigt auf grausame Art und Weise, wie unvernünftig, genusssüchtig und egoistisch die Menschen sind.
Es ist dieses Paradoxon, mit dem wir zu kämpfen haben: Die Leute monieren, dass so wenig passiert ist. Dass dies an den Maßnahmen liegt, die die Regierung – für mein Empfinden etwas zu spät, man hätte bereits Fasching aussetzen sollen – vorgenommen hatte, bringen sie nicht mehr zusammen.
Zudem zeigen die letzten Wochen, dass die Rückkehr zur Normalität die weitaus größere Herausforderung ist. In diesem Punkt hätte ich mir einen zentralen Maßnahmenkatalog gewünscht. Föderalismus ist in vielen Fällen sehr gut, bei einer Pandemie aber kontraproduktiv, weil die unterschiedlichen Regelungen nur verwirren. Und wenn ein Ministerpräsident Ramelow vollmundig die Maskenpflicht und das Einhalten des Mindestabstands in seinem Bundesland Thüringen für beendet erklärt, weckt das nur Sehnsüchte in anderen Bundesländern, die vorsichtiger (und meines Erachtens damit vernünftiger) agieren.
Doch ganz abgesehen davon bin ich erschüttert, wie die Menschen nur nach wenigen Wochen weicher Ausgangsbeschränkungen (ich haben Verwandte in Frankreich – da herrschte wirklich AusgangsVERBOT) schon wieder am rummeckern sind.
Als Bewohner einer Touristenregion (Ostfriesland) durfte ich am eigenen Leib erfahren, wie die Menschen wie die Bekloppten an die Küste gefahren sind, als die Beschränkungen aufgehoben worden sind. „Wir müssen mal wieder raus“, hieß es da, oder „Wir hatten ja so Sehnsucht und Fernweh“. Wenn ich so etwas höre, geht mir das Messer in der Tasche auf. An den Küsten mussten die Strände dicht gemacht werden, manche Inseln haben schon darum gebeten nicht mehr zu ihnen zu reisen, weil sie das nicht händeln können.
Was ist nur los mit den Menschen, dass sie in solchen Zeiten immer noch meinen müssen, größere Reisen zu unternehmen? Reicht es nicht, den Stadtpark oder die Region um seine Heimat herum zu erkunden? Ich verstehe es nicht!
Es sind diese Menschen, die noch so solidarisch für Pflege- und Supermarktkräfte geklatscht haben, die es aber jetzt nicht mehr aushalten und unbedingt wieder um die Welt reisen müssen, als ob es nichts anderes für das Seelenheil gibt.
Auch die Feierlichkeiten auf der Spree zeigen nur, dass die Menschen es nicht lernen wollen oder nicht lernen können. In diesen Zeiten sind mir Restaurant- oder Cafébesuche, ganz zu schweigen von irgendwelchen Reisen, völlig fern. Komischerweise vermisse ich aber auch nichts.
Aber wenn der junge Mensch von heute nicht mehr in den Club kann, wird er seines kompletten Lebenssinns beraubt. Ich glaube, dass uns diese Pandemie vor Augen führt, wie wenig die Menschen mit sich selbst anfängen können und immer nur nach Zerstreuung trachten. Da habe ich ehrlich gesagt wenig Sympathie und Hoffnung. Obgleich ich weiß, dass es genügend andere gibt, die auch so denken wie ich. Sie sind aber nicht so sichtbar.
Der schlimmste Virus ist und bleibt das ICH-ICH-ICH-Virus, und den wird man so schnell nicht ausmerzen können.
Daniel, Du hast meine vollste Zustimmung. War dieses ganze ich!-ich!-ich!-Gebaren schon vor Corona kaum noch erträglich, so wird es jetzt auch zunehmend gefährlich. Weil es andere in Gefahr bringt und die Menschen noch mehr voneinander entfernt. Nicht nur im engeren Umfeld oder eigenen Land, sondern weltweit.
Zum Beispiel diverse „Umleitungen“ von Schutzausrüstungen und die Kämpfe um den ersten Impfstoff, wer ihn nutzen darf.
Wenn ich es nicht schon zum Großteil wäre, würde ich spätestens seit diesem Frühjahr zum Misanthropen werden….