Eine der authentischsten Bands der Gothic-Szene, Diary of Dreams, hat ein neues Album veröffentlicht. Mit „Melancholin“, so schreibt Tim Hofmann in der „Freie Presse“, lässt Frontmann Adrian Hates die Band „meisterlich reifen„. Doch neben dem Loblied auf die Entwicklung der Band, kritisiert er in seinem Artikel die Gothic-Szene selbst, in der Bands wie Diary of Dreams zu wenig Beachtung fänden. Mangelnde Selbstkritik der Szene, so Hofmann, sorge für ein Übergewicht an klischeehaften Bands wie Blutengel oder Mono Inc., die zu einem „Aushängeschild“ erhoben werden, das letztendlich auch das Wave-Gotik-Treffen zu dem Karneval macht, mit dem es von außen bereits assoziiert wird. Hat er recht?
Abgrenzung nach Außen, aber nicht nach Innen
Für Tim Hofmann 1, den Autor des Artikels, ist Diary of Dreams ein Symbol für die Reife der Gothic-Szene, die Band „hat die inneren Werte der Szene in den letzten 30 Jahren frisch gehalten und abseits aller Klischees ins dunkle Erwachsensein weiterentwickelt.“ Die inneren Werte, die die Band für ihn repräsentieren, versickern allerdings seiner Meinung in der inhaltlichen „Leere“, die sich im sogenannten Schutzraum der Gothic-Szene breit machen würde.
Weil diese in ihrer gewählten Absonderung Kritikkultur zwar nach außen, aber kaum nach innen pflegte. Eine Subkultur also, die ihre Fassade als selbstbewussten Glanzpanzer gegen die feindliche Welt zelebrierte, aber dabei zu vergessen begann, dass auch dieser eben letztlich trotzdem erst einmal nur das ist: Fassade. Auch wenn ein Dahinter diesen Schutzraum benötigt, erwächst es in diesem eben nicht allein: Der Vorteil wird zur Leere.
Von der Hand zu weisen, ist diese Aussage nicht, denn eine gewissen Beliebigkeit und falsch verstandene Toleranz bei musikalischen Einflüssen sind Wegbegleiter der Szene geworden, die sich in so manchem Line-Up populärer Festivals und auf den Playlisten einschlägiger Szene-Discotheken widerspiegeln. Für Hofmann ist klar: „Wer den Ursprungsgeist des deutschen Gothic aus seiner 90er-Blütezeit noch lebendig spüren will, kann das nur bei […] Diary of Dreams.“
Das Gefühl der Ausgestoßenen
Blicken wir in ein paar Sätzen zurück in die 90er. Nach der Wiedervereinigung erblüht die totgesagte Gothic-Szene in neuem Glanze. Eine Welle der Kreativität sorgt für unzählige Bands, ja sogar für völlig neue Musik-Genres. Gleichzeitig wächst in der Gesellschaft die Ablehnung gegen die Gruftis, die mangels Aufklärung den Schlagzeilen des Boulevards Glauben schenkt. Während sich der Mainstream die verrückten Zeiten mit endlosen Rave-Partys aus dem Bewusstsein tanzt, bleiben die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die nicht so zu funktionieren scheinen wie der Rest der Gesellschaft, isoliert. Ausgestoßen.
Diary of Dreams nähern sich der Szene von innen heraus, sie sprechen genau die Gefühle an, die für die Ausgestoßenen unausgesprochen bleiben. Tim Hofmann meint: „…[Adrian Hates] stellte Schmerz, Innerlichkeit, Lust, Verletzung und Traurigkeit, all dieses Ringen mit dem Menschendunkel, nie als Pose aus. Mit seiner Kunst näherte er sich dem Anderssein ernsthaft, offen, neugierig, und vor allem immer aus dem Blickwinkel aktueller Lebensphasen.“
Ja, Tim Hofmann ist wahrlich ein Fan der Band und des Mannes, der seit nunmehr 14 Alben die Szene prägt, sein eigenes Plattenlabel betreibt und auch im Internet stets die Nähe zu seinen Fans sucht.
Sind wir eine leere Hülle zerbrechlicher Klischees?
Sind wir ehrlich. In vielen Gedanken hat Hofmann recht. Wir haben es nie verstanden, uns gegen innere Einflüsse abzugrenzen. Es gab nicht ein Raster, durch das wir zwischen „Kasperbands“ und echter Grufti-Musik unterscheiden konnten. Wir behielten es uns stets offen, auch noch so kuriose oder teilweise gefährliche Einflüsse zuzulassen, ohne uns zu hinterfragen. Tolerant wollten wir sein. Gleichzeitig war es uns aber wichtig, uns gegen den verhassten „Mainstream“ zu stemmen. Denn „normal“ wollten wir auf keinen Fall sein.
Allerdings sind Bands wie Blutengel, Mono INC., Oomph! oder HIM typische Einstiegsszenarien, in denen man mit der Szene in Berührung kommen konnte. Im Idealfall ist man dann irgendwann bei „echten“ Bands, wie beispielsweise Diary of Dreams hängengeblieben und fühlte sich durch deren Inhalte in der Andersartigkeit bestätigt, die man möglicherweise empfunden hat. Nur so konnte die Szene auf seit nunmehr 40 Jahren immer wieder am Leben erhalten werden.
Die Nachtschwärmer, die sich vom dunklen Licht der schwarzen Szene angezogen fühlen und lieber ein Klischee sein wollen als ein Grufti, gab es immer schon und wird es immer geben. Es gibt in jeder Szene eine gewisse Mehrschichtigkeit, die Kuriositäten zulässt und undifferenziert noch so absurde Bands zu „Gothic“ erklärt. Aber es gibt eben auch eine Schicht, in die man diffundiert, wenn man anfängt, Inhalte zu hinterfragen und sich selbst zu erforschen.
Zugegeben. Oftmals finden sich auch hier im Blog Berichte über Bands, die nicht viel mit der Szene zu tun haben, außer eben die Klischees, die sie verkörpern. Und wenn wir beispielsweise „Lord Of The Lost“ thematisieren, drängt sich der Eindruck auf, wir hätten den Anschluss zum „Geist der 90er“ – wie ihn Tim Hofmann genannt hat – verloren. Ich nehme diesen wirklich tollen Artikel über Diary of Dreams, den man nach einer kostenlosen Registrierung auch lesen kann, jedenfalls zum Anlass, über die Deutlichkeit der Abgrenzung nachzudenken.
Ein bisschen kurios ist es dann schon, dass man gerade auf dem WGT 2023 die Möglichkeit bekommt, Diary of Dreams zu lauschen und noch kurioser wird es, dass die Band im September 2023 als Gast beim Jubiläumskonzert von Mono INC. zu sehen sind. Das schmälert jedoch in keiner Weise Hofmanns Lobgesang, aber macht es dann doch noch schwerer, die Grenzen, die er fordert, auch wirklich zu finden.
Bild im Titel: Mit freundlicher Genehmigung von Daniela Vorndran – https://black-cat-net.de/
Einzelnachweise
- Hofmann, der 2004 kurz bei „Goethes Erben“ die Gitarre bediente, ist aktuell Ressortleiter Kultur bei der „Freien Presse“ in Chemnitz und aufmerksamer Beobachter der schwarzen Szene.[↩]
Ich als sehr alter Sack habe schon vor 15 Jahren gesagt, dass man Bands wie Blutengel etc. in den 80ern von der Bühne geprügelt hätte. Nun gut, zumindest ausgebuht und von der Bühne geekelt. ;-) Man hatte halt damals noch mehr Punk in den Knochen und der Pogo bei den frühen EBM-Bands war auch kein Kindergeburtstag. *g* Ich muss dazu sagen, dass ich nie ein „Rüschenhemd-Gruftie“ war, sondern vom Punk und Oi über EBM wie Nitzer Ebb und 242 in die schwarze Szene gekommen bin.
Die „Verschlagerung“ der Szene ist jedenfalls nichts Neues, das Kind ist längst in den Brunnen gefallen und die großen Festivals wie Mera meide ich schon lange, da die neben 2-3 kleinere Acts nichts Interessantes zu bieten haben. Immer dieselben Namen irgendwo zwischen Gruftschlager und Kirmestechno in pseudodüster. Bäh! Beim WGT kann ich mir wenigstens meine Nischen suchen und kriege von den Klischee-Bands nix mit.
Die Festival’s für unsere Szene leiden immer mehr an dem Punkt dass große Bands gutes Geld einspielen. Nischen Projekte wie aus Rostock Graf Vlad ehemals Bands wie: In Ora Mundi , Spiegelkeller und viele weitere. Gehen völlig unter. Schade.
Das ist der Punkt. Prinzipiell findet man auf jedem Festival seine „Nische“ oder den „Underground“ den man eigentlich von einer Subkultur erwarten würde. Je nach Festival sind diese „Zonen“ mal größer und mal kleiner.
Auf dem WGT kann man sich ganz prima „eingraben“ :-)
Hallo Harry , ich denke ich kann mich ebenfalls als „alter Sack“ bezeichnen mit fast 40 Jahren in schwarz , möchte mich aber nicht deiner Meinung anschließen . Ich bin über DM,New Order später Anne Clark und Pitchfork usw in die Szene gerutscht und kann mit Punk und Pogo nichts so recht anfangen , ich bin , wenn du so willst , ein Rüschenhemdgruftie ! Trotzdem finde ich , das deine Einstellung recht eng gefasst ist . Warum sollte jemand nicht Blutengel hören und damit glücklich sein ? Ich finde eine einzelne Person sollte sich nie über die Szene heben und Recht sprechen was Gruft ist und was nicht . Jeder hat doch so „seine“ kleinen Bands die er supi findet und trotzdem nicht zum Nonplusultra erhebt . Also ein bißchen Toleranz auch zu Blutengel und Co .
Allgemeine Kritik an der Entwicklung der Szene finde ich angebracht und okay. Aber muss es denn in einer Lobhudelei und Werbeveranstaltung für eine einzelne Band münden? Das stattet so eine Kritik mit einem etwas faden Geschmäckle aus, nach dem Motto, hier ist ein großer Fan einer Band und für ihn ist diese natürlich die beste….
Nichts gegen Diary of Dreams, aber nach dem x-ten sehr ähnlich klingenden Album hab ich mit den Jahren etwas das Interesse verloren… Ist auf jeden Fall ne gute Band, aber sicher nicht die einzige authentische deutsche Band, so wie es hier dargestellt wird.
Und die 90er als Messlatte zu nehmen, ist schon beim letzten Artikel zum Thema schief gegangen (soweit ich mich erinnere, war das jemand aus dem Goethes Erben Umfeld, der da die heutige Szene kritisiert hatte). Da war die Szene immerhin schon ein Jahrzehnt alt und die 90er waren ganz sicher nicht ihre Anfänge bzw. Essenz.
Ich glaube, Diary of Dreams ist der Aufhänger oder der „Auslöser“ für die Gedanken des Autors. Ich bin mir auch sicher, dass es noch eine Reihe von Bands gibt, die einen ähnlichen Bezug zum Thema haben.
Allerdings finde ich die 90er immens wichtig. Nicht nur wegen dem Mauerfall und der dadurch deutlich größeren und deutlich kreativeren Szene, sondern auch weil Musik „aus der Szene“ einfach sprunghaft angestiegen ist. In den 80ern haben wir doch musikalisch alles absorbiert, was wir als düster empfunden habe, ein Label „Gothic“ gab es erst in den späteren 80ern, wie ich finde.
Die Szene war schon ein Jahrzehnt als, das stimmt und das hat Spuren hinterlassen. In den 90ern begannen die Gothics, die mit 14-16 in den 80ern die Szene gestolpert sind, ihr Dasein zu hinterfragen. Das „dunkle Gefühl“ wurde mit Inhalt, Pathos und Neugier untermalt und ausgebaut.
Mit der „zweiten Generation“ – die dann deutlich größer war als die „erste“ waren dann auch dankbare Abnehmer für die Inhalte am Start.
Nein, die 90er waren nicht die Anfänge der Szene, da gebe ich dir recht. Aber erst nach einem Jahrzehnt „aufkochen“ entwickelte sich ein Destillat von „Gothic“, wie ich finde.
Hallo Robert, ich bezog mich auf folgenden Satz:
Die 90er haben die Szene immens geprägt, keine Frage, allein durch das Hinzukommen deutscher Texte, romantischer Klänge usw. Ich hatte nur den Autor so verstanden, dass er die 90er als Messlatte für alles, was danach kam, anlegt.
Ich finde es interessant, dass Diary of Dreams unter so vielen „Old-school-Gruftis“ als authentische Repräsentanten der Szene respektiert werden. Das hätte ich gar nicht gedacht: Als ich, später als vermutlich die meisten hier, aus der Ecke Black Metal und experimentelle Musik in die schwarze Szene eingetaucht und dabei natürlich auch irgendwann über DoD gestolpert bin, habe ich diese eher als ziemlich kitschigen Schmonz empfunden, gar nicht soo weit von Blutengel oder den früheren Unheilig-Sachen entfernt (bevor ich damit Fans auf die Füße trete: Ich gebe sofort zu, mich nur sehr oberflächlich mit der Musik beschäftigt zu haben, da mich der Gesang, die Texte und die pathetischen Arrangements einfach von Beginn an nicht abgeholt haben). Tatsächlich finden zumindest hier in der Umgebung DoD auf den 80er/Oldschool-orientierten Partys kaum statt, sondern man hört sie mal auf den „All styles of dark music“-Events.
Was die Toleranz betrifft: Die Bands, die hier als Verwässerung der Szene angeprangert werden, werden meiner Erfahrung nach auf den kleineren Partys, die für gute Musikauswahl bekannt sind, nicht gespielt. Wenn es irgendwo läuft, verdrehen entsprechend gepolte Menschen die Augen und ziehen sich zurück, entsprechende Konzerte werden nicht besucht. Andere Leute feiern das natürlich, Pop findet immer ein größeres Publikum als experimentelle oder „schwierige“ Musik, das liegt in der Natur der Sache. Was sollte denn getan werden? Von der Bühne prügeln, wie es in einem anderen Kommentar scherzhaft vorgeschlagen wurde? Mehr schlechte Rezensionen in Magazinen? soweit ich weiß, gäbe das Konflikte mit der Finanzierung, um es milde auszudrücken.
Ich fürchte, das ist einfach eine normale Entwicklung, wenn eine Subkultur ins Rampenlicht rückt und dann auch noch so schön verwertbare visuelle Marker verwendet wie die schwarze Szene. Da ist und bleibt es wichtig, dass man die Bands, Labels und Events unterstützt, die den Spirit repräsentieren, den man selbst mit der Szene verbindet… und eben weiter fleißig die Augen verdreht, wenn irgendwo Blutengel läuft.
Sehe ich ähnlich. DoD ist in meinen Augen irgendwo im Mittelfeld auf dem Spektrum zwischen „kommerzieller Mainstream-Mist“ und „obskurer Underground“ angesiedelt. Jetzt nicht komplett platt, aber auch nix wofür ich Geld ausgeben würde.
Und wenn man in einer Gegend mit halbwegs aktiver Szene lebt kann man sich inzwischen wirklich die passenden Events aussuchen, das stimmt. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal Blutengel und Konsorten überhaupt gehört hab. Ist sicher fünf Jahre her, sicher noch länger. Wobei ich natürlich weiß, in welche Läden ich gehen müsste um diese Musik zu hören. Gilt genauso für Mittelalter, Elektro usw.
Diese Selbstinszenierung als „Ausgestoßene“ der Gesellschaft bringt mich übrigens immer dazu, heftigst mit den Augen zu rollen. Sich mit … was weiß ich … psychisch kranken Obdachlosen gleichzusetzen, um die alle einen Bogen machen, ist schon ziemlich albern.
Das ist vor allem Wunschdenken, gepaart mit einer ganz speziellen Form von Eitelkeit. Nicht „normal“ sein zu wollen ist ein ziemich untrügliches Zeichen dafür, sehr normal zu sein. Kann ja gut sein, dass in der Szene Introvertiertheit ein bisschen verbreiteter ist, aber auch die ist vollkommen „normal“. Vor allem erlebe ich immer wieder Snobismus (auch sehr deutlich im obigen Artikel, als ob’s in der Szene keinen Hedonismus und keine Partys gäbe), und wenn man andere Menschen herablassend als „Stinos“ o.ä. beschimpft darf man sich wirklich nicht wundern, wenn die nichts mit einem zu tun haben wollen.
Ich persönlich muss sagen, mit der Musik von Diary of Dreams konnte ich mich nie anfreunden. Und mit Blutengel & Co. ebenso wenig :-).
Schon von Anfang meiner Szene-Jahre (2000er) habe ich mich viel mit den Grufti-Jahren der 80er & 90er auseinandergesetzt und identifizieren können. Eben diese genannten Bands konnte ich mich nicht anfreunden und fand wenig Bezug dazu. Aber keine Frage, Geschmäcker sind eben verschieden.
Es ist etwas hochgegriffen zu behaupten, das der Ursprungsgeist des deutschen Gothic aus seiner 90er-Blütezeit nur durch Diary of Dreams zu spüren bekommt. Da gibt es in meinen Ohren andere Bands, die mir dieses Gefühl mehr vermitteln.
Aber was die Angelegenheit innere Einflüsse und Abgrenzung betrifft, so stimme ich der Sache zu. Das Ergebnis darf man selbst heute noch bei bestimmten Festivals beobachten.
Doch so leidig das Thema manchmal ist, so bewahren gewisse Veränderung oder neu dazu gekommenes, vielleicht auch das Aussterben einer Szene.
Es ist eben der Lauf der Zeit und trotzdem, wie Robert im Artikel schreibt, lohnt sich der Gedanke über die Deutung und Abgrenzung.