Mein schaurig schönes Tagebuch – Episode 4: Sport ist Mord

Liebes Tagebuch. Körperliche Ertüchtigung in klimatisierten Fitness-Tempeln voller Menschen in quietschbunten Sportklamotten, die zu technoiden Klängen dem Gebrüll eines Vortänzers folgen, gehörte bislang zu den schlimmsten GAUs (Größte anzunehmende Unmöglichkeit) meiner Vorstellungskraft. Sport im Allgemeinen zählte nicht unbedingt zu den Dingen, die auf meiner Prioritätenliste ganz oben angesiedelt sind. Muskeln, breite Schultern und ein gestählter Körper gehören nicht zu der idealisierten Vorstellung meiner Selbst. Und jetzt? Gerade habe ich meine Sporttasche leergeräumt, das vollgeschwitzte Handtuch in die Wäsche gebracht, die Sportschuhe durchgelüftet und meine Badekappe und Schwimmbrille zum Trocknen aufgehangen. Was ist passiert?

Beginnen wir von vorne. Vor einem guten Jahr äußerte sich meine Schwester recht negativ zur ihrer Eigenmotivation in Sachen Schwimmen und auch ich gehöre nicht unbedingt zu den Motivationswundern wenn es darum geht, selbst etwas zu machen. Wir beschlossen, dass es eine gute Idee wäre, gemeinsam den gegenseitigen Schweinehund zu bekämpfen und wieder mit dem Schwimmen anzufangen, denn geschwommen haben wir seit unserer frühesten Jugend. Nur jetzt irgendwie nicht mehr. Mein Schwester war in unserer Familie Vorreiterin in Sachen Vereinssport, jahrelange Mitgliedschaft im örtlichen Schwimmverein machten aus ihr ein ausgezeichnete Schwimmerin, die auch bei lokalen Wettkämpfen stets ein gute Figur machte. Ich selbst eiferte ihr nach, oder wurde zu Nacheiferung gezwungen, ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Ich wollte aber irgendwas mit Bällen machen und entschied mich, Wasserball zu spielen, auch im Verein, auch mit lokalen Wettkämpfen.

20 Jahre später scheint die Vergangenheit ertrunken zu sein. Mit dem „Erwachsenwerden“ ändern sich manchmal die Prioritäten, auch zum Negativen. Unsere ersten Schwimmversuche im neu gebauten, örtlichen Schwimmbad waren vielversprechend, es machte uns tatsächlich Spaß wieder auf der Bahn für die „sportlichen“ Schwimmer unsere Bahnen zu ziehen. Zwischendurch ließen wir uns von den „Blubberblasen“, wie wir die Sprudelliegen tauften, Ganzkörpermassieren. Die Zeit darauf nutzen wir darüber hinaus auch für ein neues Kennenlernen, viel zu lange haben wir uns nicht mehr richtig unterhalten. Mit jedem Blubberblasen-Talk merke ich, wie weit weg mir meine Schwester erscheint und wie nahe wir uns doch stehen.

Zurück zum Sport. Nach anfänglichen 20 Bahnen haben wir uns auf inzwischen stattliche 50 Bahnen hochgearbeitet. Mittlerweile lästern wir sogar über die Kraul-Platscher, Beckenrand-Plauderer und Kopf-über-Wasser-Schwimmer, die die Bahn durch ihre Anwesenheit zum Hindernissparcour werden lassen. Der konditionierte Spar-Wille veranlasste uns dazu irgendwann eine „Platin-Karte“ käuflich zu erwerben, von der man nach guter alter Prepaid-Manier Guthaben verschwimmen konnte. Bei einem der schon traditionellen Blubberblasen-Gespräche kristallisierte sich heraus: Schwimmen allein kann noch nicht alles sein, vor allem meine Schwester gierte in ihrer neu gewonnenen Sportlichkeit nach mehr. „Ich muss noch was für meine Haltung tun.“ und auch ich konnte mich nicht gegen die Tatsache wehren, dass mein durch Bandscheibenvorfälle lädierter Rücken etwas Hilfe brauchen konnte. Darüber hinaus könnte man durch eine kombinierte Mitgliedsgebühr weiterhin vergünstigt schwimmen gehen. Aber alleine in so ein Fitness-Studio, das war ihr dann doch nicht ganz geheuer.

Was soll ich anziehen?

Wem sagte sie das? Schließlich bin ich ihr Bruder und meiner Schwester in erstaunlich vielen Dingen doch ähnlich. Allein der Gedanke an gestählte Männer, die ächzend und stöhnend Metall bewegen und sich dabei im Spiegel bewundern, war mir zuwider. Auch die angepriesenen Kurse machten den Gedanken nicht angenehme. Ein Trainer der seine Gefolgschaft über ein Mikro einpeitscht: „Come on! Noch 5…. yeah…. noch 4…. wuuuuh … noch 3 … Come On! 2 noch…. YEAH!“ Ich in so eine Testosteron-Fabrik? In ein militärisch gedrillte Sperrzone der Lächerlichkeit sich im Takt zu furchtbarer Musik bewegen? Ist es einem Gruftie überhaupt erlaubt, sich derart körperlich zu ertüchtigen? Und vor allem: Was soll ich anziehen??

Ich warf die Bedenken über Bord. „Einfach mal machen und nicht immer meckern!“ Ein Probetraining beim Rückenfit-Kurs schien uns eine gute Gelegenheit, die neu gewonnenen Ambitionen auf die Probe zu stellen. Logisch dass ich erstmal zum Shoppen pilgerte um die Lücke im Kleiderschrank mit der imaginären Aufschrift „Sport“ mit Klamotten zu füllen. Ich denke, dass allein diese Odyssee einen Roman füllen könnte, ich beschränke mich aber auf die wesentlichen Erkenntnisse: Sportbekleidung ohne Werbung scheint eine Rarität zu sein, irgendwo prangert immer eine überdimensionale Aufschrift des Herstellers. Trainingsklamotten für Männer betonen mitunter die primären Geschlechtsorgane und sind damit ästhetisch gestorben. Ein Mann in der Damenabteilung für Sport-Klamotten ist noch ungewöhnlicher als eine Frau auf der Herrentoilette, jedenfalls wies mich die Verkäuferin gleich 3 mal darauf hin, dass „Männerkleidung“ ein Stockwerk tiefer zu finden ist. Und offensichtlich sind quietschbunte Farben Zeichen für Sportlichkeit, denn es war mit nahezu unmöglich schwarze Turnschuhe zu finden – Nieten, Schnallen und Totenköpfe hatte ich mir ja schon abgeschminkt.

Und so stand ich da, in meiner schwarzen Damen-Jogginghose, den schwarzen Turnschuhen mit Schnürsenkeln um dem Joy Division T-Shirt als letzte visuelle Bastion der Andersartigkeit. Der Rückenfit-Kurs war ein demografischer Schnitt durch die Gesellschaft, innerlich lächelte ich siegessicher über die Ü60-Truppe im linken Augenwinkel, stempelte die jungen Frauen zu meiner rechten als Poser ab, die im markeneinheitlichen Outfit (selbst die Strümpfe!) nur darauf warteten von mir in Grund und Boden geturnt zu werden. Welch maßlose Selbstüberschätzung! Handwerker sind keine Sportler und Grufties schon gar nicht. Als der grauhaarige Faltenbalg links von mir seinen Oberkörper bei gestreckten Beine souverän in Richtung Boden bewegte verschwand das siegessichere Lächeln schlagartig. Und auch die Poserinnen ächzte nicht so laut wie meine Wenigkeit nach nur 30 Minuten. Meine Schwester, die dank mangelnder Körperkoordination hilflos mit den Armen und Beine fuchtelte, war nur ein schwacher Trost in meiner Scham. Aber immerhin ein kleiner.

Nach weiteren 30 Minuten war der Spuk vorbei und ich war reif für den Sarg, doch unser „Personal-Coach“ Patrick fing uns nach dem Kurs souverän ab, um mit uns eine „Geräterunde“ zu starten. Und ehe ich lateinische Beschwörungsszauber murmeln konnte fand ich mich in so einer mittelalterlichen Foltermaschine wieder, die nur „zur weiteren Unterstützung des Rückens“ dienen würde, so Trainer Patrick. Ja, ja!

Und so mache ich fleißig meine Geräte-Runden, strecke und dehne mich im Rücken-Fit-Kurs und ziehe stetig meine Bahnen durch das Wasser. Gerätetraining finde ich immer noch doof, den Rückenkurs nehme ich als notwendiges Übel einfach mal hin, während ich mich letztendlich immer wieder auf das Schwimmen freue. Immerhin konnte ich durch Stiltreue bei der T-Shirt Auswahl (Depeche Mode, Siouxsie & The Banshees, Joy Division) eine gewisse Individualtät bewahren. Jedenfalls einen kleinen Hauch.

Sport ist Mord!

Wiedereinmal ist Martin Gore an allem Schuld. Denn der macht schon seit einer ganzen Weile intensiv Sport weil er einfach merkt, dass man die Erscheinungen des Alters (und die Anstrengungen des Tour-Lebens) nur durch Fleiß besiegen kann. Und was der kann, kann ich auch. Ich meine, machen wir uns nicht vor. Die Zeiten, in denen wie 2 Pizzen verdrückt haben ohne einen Gramm zuzunehmen sind endgültig vorbei. So ein jugendlichen Stoffwechsel ist äußerst erstaunlich. Auch die Zeiten als junger Mann, in denen man allein vom schnüren der Docs Muskeln ausbilden konnte, sind passé. Heute erreicht man das vermeintliche Idealbild nur durch Fleiß und Verzicht. Was für ein trostloses Leben, so als bald 40-jähriger. Da fragt man sich zwangsläufig, woher dieses Idealbild kommt und bleibt verärgert mit der Erkenntnis zurück, dass wir alle irgendwie nach Uniformität streben. Körperliche und ästhetische Idole setzten meist ein gewisses Erscheinungsbild voraus, der Hang zur Selbstdarstellung würzt das Ganze mit gelegentlichen Unzufriedenheiten und Selbstzweifel.

Fitness-Studios sind die Verkörperung des „Bösen“, in ihr manifestiert sich der Wunsch unserer Gesellschaft das propagierte Idealbild des Menschen auszufüllen. Fitness-Messen sprengen mittlerweile Besucher-Rekorde, es gibt in den Städten mehr Fitness-Studios als Tankstellen und auch der Markt für Nahrungsergänzungsmittel zur „Körperoptimierung“ boomt. Gothic sein, dass bedeutet doch auch „dagegen“ zu sein. Gegen eine Spaßgesellschaft, gegen die Gleichschaltung, gegen die Unifomität. Ich meine, wie lächerlich mache ich mich eigentlich diese Werte zu fordern, während ich 2 mal in der Woche im Fitness-Studio einchecke?

Auf der anderen Seite bin ich in einem Lebensalter angelangt, dass immer weniger verzeiht. Das Leben hat bereits Spuren hinterlassen, chronische Fehler in der Vergangenheit sorgen für spürbare Defizite. Jeder, der Ü40 (oder knapp drunter) auf dem WGT 4 Tage mit umherlaufen, feiern und tanzen verbracht hat weiß, dass diese Leistung ihren Tribut fordert. Mit 19 bin ich nach dem Donnerstag in der Discothek in den frühen Morgenstunden direkt in die Lehrwerkstatt gefahren. Mit 39 brauche ich 3 Tage Urlaub und eine kühlende Augenmasken auf dem Sofa.

Und so ermordet der Sport auf eine subtile Art und Weise ein wenig von der gefühlten Andersartigkeit. Sicher, ich könnte mir selbst den Buckel runterrutschen und mich einfach dem Genuss hingeben. Will ich aber nicht. Dann bin ich lieber ein bisschen leiser, wenn es darum geht sich über die zu echauffieren, die zu blinkenden Lichtern und lauter Musik auf Fahrrädern strampeln, die nicht von der Stelle kommen.

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mela
mela (@guest_49700)
Vor 10 Jahre

Meiner Meinung nach dürfen Grufties sporteln :)
Ich selber habe ja wieder mit dem Sport angefangen, um meine Migräne zu bekämpfen und um gegen meine Medikamente anzukommen, die an einer Gewichtszunahme von knapp 20kg Schuld trugen. Vor zwei Jahren entdeckte ich den Boxclub im Ort, der auch für Frauen ein Fitnessboxen anbietet. Ich ging einmal hin, hielt super durch (immerhin lag der Halbmarathon ja erst zwei Jahre aber auch eine verschleppte Lungenentzündung zurück), prahlte am nächsten morgen damit, dass das alles gar nicht weiter schlimm sein und konnte mich 24 Stunden später nicht mehr rühren. Ich blieb dennoch am Ball, probierte Muay Thai, K1 und MMA aus, um dann letzten Endes beim Boxen und CrossFit hängen zu bleiben. Und es macht wahnsinnig Spaß! Das Boxen trainiert meine Hand-Augen-Koordination, die ja nach dem Augeninfarkt komplett flöten gegangen war, das Crossfit trainiert Körper und Seele gleichermaßen. Das Schwimmen (ich bleibe eisern bei meinen 20 Bahnen die Woche ohne Ambition, da was zu steigern) sehe ich eher als Entspannung.
Nun ja, mittlerweile bin ich bei 3 bis 7 Sporttagen in der Woche (ja nachdem, wie mein Privatleben es zulässt) und nach dem Sport bin ich weitestgehend schmerzfrei :)
Mein Körper dankt es mir auch – von den zugenommenen 20kg sind nur noch 7 drauf. Und irgendwie ist es ein tolles Gefühl, zu wissen, dass ich mein Eigengewicht auch heben könnte (mittlerweile auch wesentlich mehr).
Und Sportsachen gibt es auch in schwarz. Ich bin (mit Ausnahme meiner Crossfit-Schuhe) ausschließlich sportlich in schwarz unterwegs. Auch bei 36°C im Schatten. Ich leide lieber, als dass ich auf diese Farbe beim Sport verzichten würde!

Mone vom Rabenhorst
Vor 10 Jahre

Welch wunderbarer Bericht!!! Herrlich geschrieben. Mußte mehr als einmal laut lachen! :-)

(Nachtrag: Oh, Mist, was schreib ich hier? Natürlich bin ich kurz vorher schnell in den Keller runter! :-P )

Daniel
Daniel (@guest_49748)
Vor 10 Jahre

Ich liebe diesen Bericht! Er ist so herrlich witzig geschrieben, dass ich mehr als einmal wirklich lachen musste :)Ich trage zwar nicht nur schwarze Sportklamotten, aber auf jeden Fall auch eher dunkel und vor allem dezent gehalten.

Aiden
Aiden (@guest_49793)
Vor 10 Jahre

Ich schließe mich den anderen an und muss ebenfalls ein Kompliment an dein Schreibstil geben. Sehr Amüsant und Sympathisch. Solche Texte liest man eifnach gerne. Und ja Sport ist Mord, aber wenn man den richtigen Sport gefunden hat ist es Leben pur :)

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