Mein schaurig schönes Tagebuch #13: London, endlich wieder die Gap minden

Liebes Tagebuch. Für meinen Bericht aus der britischen Hauptstadt wollte ich kosmopolitisch wirken, das urbane Leben einer Metropole spiegeln und wie so ein neuzeitlicher Schriftsteller und Autor rüberkommen. Kurz gesagt, ich wollte cool sein. Ich schnappte mir also das mitgebrachte Laptop und betrat ein Café mitten in der Londoner Innenstadt, nachdem ich mich wendig wie eine Katze durch das montägliche Chaos der Großstadt geschlängelt habe. Ich orderte einen großen Milchkaffee, suchte mir einen gemütlichen Tisch, richtete das kostenlose WiFi ein und wartete darauf, dass mein Blog aufgerufen wurde. Die Beine lässig übereinander geschlagen, die glänzenden Spitzen der Pikes zum Schaufenster ausgerichtet, rührte ich den Zucker in den Milchkaffee. Ich beobachtete die Menschen, die gehetzt vorbeizogen und all die anderen genauso coolen Leute, die auch im Café über ihren Computern brüteten. Ich wollte die Inspiration, die Energie und die beinahe atemberaubende Geschwindigkeit dieser Stadt in mich aufsaugen, um sie in Worte zu verwandeln die sich wie ein pulsierender Strom literarischer Schönheit auf dem Bildschirm manifestieren sollten.

Stattdessen fror ich. Ich saß unweit der Tür, die im Grunde genommen nie wirklich geschlossen war und im hinteren Bereich entluden die Angestellten einen voll bepackten Lieferwagen durch den geöffneten Hinterausgang. Zu allem Überfluss hatte man auch die Klimaanlage eingeschaltet, die ein wohlfühlen jenseits der 20 Grad unmöglich machte. Als wäre das nicht schon schlimm genug, brauchte ich als WiFi Passwort eine Zahlenkombination auf der Quittung für meinen Milchkaffee, die ich beim Kauf aber abgelehnt hatte. Coole Kosmopoliten brauchen keine Quittung! Weil ich mir dann zu fein war zu fragen, ob ich nicht doch eine Quittung habe könnte, wich ich auf die Handy-Verbindung aus, die eigentlich nur aus Störungen bestand und das aufrufen des Blogs zur Geduldsprobe ausweitete. So saß ich frierend da, umklammerte meinen Milchkaffee, schlürfte die wohltuende Wärme in mich hinein und wartete auf bessere Zeiten. Leute beobachten, das war sowieso mein liebstes Hobby, wie ich bereits während der Reise feststellte.

Samstag, 4. März 2017

Mit dem Zug zu fahren war eine gute Entscheidung. Ich liebe das Reisen mit der Bahn. Viel entspannter als fliegen, das Gepäck unterliegt kaum Beschränkungen, man hat mehr Platz, Steckdosen für Ladegeräte und beim Blick aus dem Fenster sieht man nicht nur Wolken. Kurze Aufenthalte in Aachen und Brüssel eröffnen zudem die Möglichkeit in Zeitschriften oder Büchern zu stöbern, einen Kaffee zu trinken, eine lokale Spezialität zu verzehren oder sogar einen kurzen Blick auf die entsprechenden Städte zu erhaschen. Alle Züge waren dieses mal sogar ausgesprochen pünktlich, meine Reservierung klappte einwandfrei und im Zug gab es sogar kostenloses Internet. Wow. Ich habe der Bahn meinen Ausdruck der Freude dann via Twitter mitgeteilt. Waren denen aber egal.

Beim 30-minütigen Aufenthalt in Aachen habe ich dann mal in der schwarzen Presselandschaft gewühlt. Depeche Mode ist überall ein Thema, klar. Ein neues Album im Gepäck und Dave Gahan im Pastell-Blauen Anzug. „Depeche Mode proben den Aufstand“ heißt es da und als wäre der Anzug nicht schon Protest genug, gucken die drei auch noch böse und im Vordergrund steht ein Vorschlaghammer. Im Orkus bedankt sich Mark Benecke dafür, das er 2016 mal auf dem Cover der selbigen Zeitschrift war, obwohl er weder darum gebeten noch dafür bezahlt hatte. Ist das zynisch gemeint? Im Sonic Seducer berichtet der Blutengel auf dem „Sofagespräch“ aus seinem Leben. Seine Jugend liegt schon eine Ewigkeit zurück und ein bisschen Angst vor dem alt werden hat er auch. Erschütternd. Im Dark Spy bekommt kein Album in der Autorenwertung weniger als 9 von 12 Punkten, schon toll, wieviel Qualität auf den Markt strömt. Sonst gibt es nicht viel neues von Stahlmann, Mono INC. und Rammstein.

Brüssel ist weniger aufregend, aber deutlich bedrückender. Überall stehen bewaffnete Soldaten mit automatischen Waffen im Anschlag herum, vor dem Bahnhof gepanzerte Fahrzeuge und unzählige Sicherheitsbeamte pilgern durch das weitläufige Bahnhofsgebäude. Den Terror-Anschlag, der vor ziemlich genau einem Jahr in der Stadt verübt wurde, liegt den Belgiern offenbar immer noch bleiern in den Knochen. Ich entschließe mich, zügig einzuchecken. Beim kontrollieren meines Ausweises an der vorgelagerten britischen Grenze denke ich noch darüber nach, wie das nach dem Brexit wohl laufen wird. Ob ich dann ein Visum brauche? Muss ich dann einen Fragebogen ausfüllen, der mich danach fragt, ob ich oder mein Vater ein Terrorist ist?  Ich verwerfe meine Gedankenspiele, schlängele mich an einer lärmenden Schulklasse vorbei, die völlig aufgeregt den gesamten Wartebereich des Eurostars beschallt, genehmige mir meinen ersten Kaffee an diesem Morgen und warte auf das Boarding-Signal.

Als es losgeht, bin ich von der schnellen Sorte, ich habe keine Lust, mich unter den Achselhöhlen der Gepäck einladenden Fahrgäste zu meinem Sitzplatz zu kämpfen. Ich verstaue meinen Koffer, ziehe die Jacke aus und nehme auf Platz 58 in Wagen 16 meinen Sitzplatz ein. Neben mir setzt sich ein älterer Herr, der sogleich mit dem Studium seiner englischen Zeitung beginnt. Prima. Der wird mir bestimmt nicht lästig! Als dann das Großraumabteil von Wagen 16 von der eben erwähnten Schulklasse gestürmt wird, bin ich noch voller Hoffnung, das sich der Pulk der Jugendlichen im Wagen verteilt. Ein von der Lehrerin gerufenes: „Roman, Jennifer, Stefan! Hört mal: Bitte alle auf die Sitze 22-56 und 59 bis 70 verteilen!“ Klasse. Ich mittendrin statt nur dabei.

Was ich in den folgenden 2 Stunden in den Pausen zwischen 2 Liedern meiner Playlist von der Schulklasse wahrnehme, die sich auf ihrer Abschlussfahrt befindet, ist für die Geschichtsbücher und für Pisa: In Belgien fahren die Autos auch auf der anderen Straßenseite, den Tunnel hat man von Belgien nach England verlegt und wer die Frau auf der Vorderseite der britischen Geldscheine ist, kann sich niemand so richtig erklären. Als dann die gesamte Schulklasse kreischt, als wir in den Tunnel fahren, schwöre ich mir, die Pausen zwischen den Liedern irgendwie verschwinden zu lassen. Da gibt es doch bestimmt so eine Mix-App.

Der Rest ist schon gewohnte Routine. Den Weg zur U-Bahn nehmen, die Oyster Card für die U-Bahn aufladen und am Geldautomaten britische Pfund ziehen. 30 Minuten später bin ich bei den Katharina und Parm vom Schemenkabinett, die in London wohnen und die mir einen Schlafplatz in ihrem Basement Flat zur Verfügung stellen. Sehr großzügig, denn das ermöglicht mir erst diesen längeren Aufenthalt, denn die horrenden Hotelkosten, die in der britischen Hauptstadt üblich sind, fallen nicht an.

Da Samstags DER Party-Tag in London ist, lasse ich mich von den Beiden auf die No-Tears Party entführen, die musikalisch interessant zu werden verspricht, denn NDW (Neue deutsche Welle) darf man auf einer englischen Party dann auch mit Fug und Recht für ungewöhnlich halten. Ich meine, man muss sich das mal überlegen, wie verwöhnt man hier ist. Fast schon selbstverständlich versteht man die meisten Liedtexte und irgendwie jeder Gast spricht die eigene Sprache, die man dann natürlich auch nicht verlassen muss. Trotzdem bemühen sich einige Tanzflächen-Enthusiasten mit dem nachsingen von Peter Schillings 80er Jahre Hit „Major Tom“. Sehr bizarr. Der Laden wird nicht brechend voll, ist aber gut besucht. „Normalerweise sei hier mehr los„, versichert man mir ungefragt. Mir ist das so eigentlich sehr recht. Platz zum betanzen einiger bisher unbekannter Synth-Wave Stücke und zum kennenlernen einiger neuer Menschen wie beispielsweise Nathan, der mir von seiner aufstrebenden Karriere als erfolgloser Comedian berichtet, erzählt, wie er einmal in Köln war und der zu guter Letzt mit der Lichterkette aus der Dekoration des Ladens über die Tanzfläche bürstet. Wir bleiben, bis der Laden um etwa 3:30 mit „No Tears“ den Abend beendet, bestellen ein Uber (private Taxis) und lassen uns in die Unterkunft fahren.

Sonntag, 5. März 

Die Sonne wechselt sich mit Regenschauern ab, es ist windig und trotzdem beschließen die Doktoren und meine Gruftigkeit, einen Friedhof zu besuchen. Meine Frau fehlt mir, Friedhöfe ohne meine Orphi sind nur halb so schön, halb so romantisch, halb so mythisch und halb so atemberaubend. Auf dem Weg dorthin besorgen wir uns noch ein schnelles Frühstück, das wir auf dem Friedhof zu uns nehmen wollen. Leider frischt der Wind bei unserer Ankunft so auf, das die auftretenden Böen den Inhalt von Parms Sandwich mitreißen. Wir beschließen eine nahegelegene neogotische Burg in der Gestalt einer Bushaltestelle aufzusuchen, um dort im Stehen zu speisen, weil irgendjemand die Bänke der hölzernen Haltestelle entfernt hat. Wir kleckern nicht, räumen unseren Müll brav weg und nutzen die sonnige Wolkenlücke um loszuziehen und den Friedhof zu erkunden, der zwar alt ist, aber nicht zu den Maginficent Seven gehört.

Der Regen sorgte für eine übereilte Abreise, die uns im strömenden Regen an der malerischen Autobahn vorbeiführt. Immerhin, der Abend verspricht wieder interessant zu werden, denn einige Londoner Gruftis wollen ihre Höhlen verlassen, um sich Abends zu einer kleinen Convention zusammenzufinden. Ich sehe Felicia und Anne wieder, lerne den Italiener Kalle kennen und die beiden Doktoren sind auch von der Partie. Naja, die wohnen ja auch hier. Wir blödeln herum, laben uns am Fingerfood und tauschen Schimpfwörter in fremden Sprachen aus.

Doch es sollte für mich philosophischer werden, als zunächst angenommen.

Ich frage mich, was die Menschen in diese Metropole zieht, die auf den ersten Blick zwar aufregend, vielseitig und interessant ist, aber im Grunde genommen ein riesiger Strudel ist, an dessen Ende ein gieriger Schlund darauf wartet, die Schwachen zu verschlingen, um sie desillusioniert und gebrochen wieder auszuspucken. Was veranlasst die Menschen, ihre Heimat zu verlassen, um hier her zu gehen und ihr Glück zu finden? Niemand der Anwesenden ist Londoner. Einige sind erst ein paar Jahre da, andere strampeln bereits über 10 Jahre, um nicht unterzugehen. Wir sprechen über die Szene und die Freundeskreise, die sie beinhaltet. Freundschaften sind in London nicht für die Ewigkeit geschaffen, auch wenn sie intensiver erscheinen, als anderswo. Hier scheint man glücklicher darüber zu sein, Gleichgesinnte zu finden mit denen man sich trifft und die in dieser Fremde soziale Bindungen ermöglichen.

Die britische Hauptstadt macht einsam. Um über Wasser zu bleiben musst du Dich abmühen, denn es ist anstrengender als anderswo, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Mieten sind absurd hoch, die Löhne erschreckend niedrig und die Freizeit verschwindend gering. Das ganze brodelt in einer glühenden Masse aus Hektik, Stress und Rastlosigkeit. London schläft nicht. In jeder Sekunde, in der du schläfst, rast die Stadt an Dir vorbei.

Und trotzdem kommen Menschen wie die, die sich an diesem Abend bei Kerzenschein und Räucherstäbchen um einen kleinen Tisch scharen und Wein trinken, hierher. Jeder aus anderen Gründen, jeder mit anderen Zielen, alle mit Träumen und und Wünschen. Ich bin mir unsicher, ob ich Sache auf den Grund gehen kann. 4 Tage habe ich ja noch.

London 2017 - Sonntag - Goth Convention
Goth Convention London 2017 – Von Links nach Rechts: Parm, Felicia, Anne, Kalle, Katharina. Die besonders interessierte Gesten sind einstudiert und abgerufen. In Wahrheit blickte alle leer in die Luft und warteten darauf, dass es Montag wurde.

 

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Martin
Martin (@guest_54469)
Vor 7 Jahre

Was für ein wundervoller geschriebener Blog. Danke für die Einsichten in das wilde leben in diese Stadt mit den verbundenen lebenden Goten :) Diese Kirche vom Friedhof sieht so wunderschön aus. Ob sie auch dort drinnen waren?

Axel
Axel (@guest_54477)
Vor 7 Jahre

London ist eine schlimme Stadt. Rund 1000€ für eine 35qm Wohnung in Stadtnähe, die Mietverträge sind zu allermeist auf ein Jahr begrenzt. In der Innenstadt stehen ganze Straßenzüge leer. Kein Licht, kein Leben, tote Wertanlagen ausländischer Investoren. Die Menschen müssen immer mehr ins Umland ziehen und viel Geld für den Arbeitsweg ausgeben.

London ist das perfekte Beispiel was passiert, wenn eine Regierung auf Sozialstaatlichkeit verzichtet und einen kalten Ultraneoliberalismus schalten und walten lässt. Denn in der Tat ist diese Stadt abseits der typischen Toursimus-Magneten ziemlich tot. Wenig Freizeit, die Menschen strampeln über Jahre um auf einen unerreichbaren grünen Zweig zu kommen. Und wer das nicht leisten kann kommt zwangsläufig unter die Räder.

Martin
Martin (@guest_54487)
Vor 7 Jahre

@Robert

Danke dass würde mich riesig freuen wenn du Fotos von Kirche machen könntest und einen neuen Bericht in Spontis Postest. Bin neuling auf dieser Seite.

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