Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet

In Ostafrika sind 500.000 Kinder akut vom Hungertod bedroht, Jean Ziegler brachte das Problem in einer nie gehaltenen Eröffnungsrede vor der Salzburger Festspielen deutlich auf den Punkt: „Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 37 000 Menschen verhungern jeden Tag, und fast eine Milliarde sind permanent schwerstens unterernährt. Und derselbe Weltfood-Report der FAO, der alljährlich diese Opferzahlen gibt, sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos das Doppelte der Weltbevölkerung normal ernähren könnte. Schlussfolgerung: Es gibt keinen objektiven Mangel, also keine Fatalität für das tägliche Massaker des Hungers, das in eisiger Normalität vor sich geht.

Harte Fakten einer harten Wahrheit. Während täglich tonnenweise Lebensmittel in Supermärkten vernichtet werden, weil sie nicht mehr so schön aussehen, sterben an einem anderen Platz der gleichen Erde tausende Menschen an Hunger. Eine dunkle Welt und eine düstere Zukunft für eine verblendete Gesellschaft. Das zeigte die schwarze Szene schon vor 30 Jahren, als sie damit begann, ästhetisch zu provozieren.

Als die Gothics damit begannen die Farbe schwarz zu tragen, fragte sich die verunsicherte Gesellschaft, was die Jugendlichen damit zum Ausdruck bringen wollten. War es zu Beginn die Provokation, ein passiver Protest, so formte sich daraus im Laufe vieler schwarzer Jahre eine Einstellung. Der auf die Negativen Seiten des Lebens hinweisende Protest der Gothics richtet sich bei vielen gegen die als materialistisch wahrgenommen Gesellschaft, die häufig auch als Spaß- oder Wohlstandskultur interpretiert wird. Eine passive und äußerliche Darstellung der dunklen Seiten des Lebens, die zwar immer vorhanden waren, aber häufig nur unter vorgehaltener Hand diskutiert wurden. Hatte man über die äußere Faszination oder die musikalische Begeisterung den Weg in die Szene gefunden, folgte bei einigen weiterführende Gedanken, die den Gothics einen Hintergrund verliehen.

Die Szene hat sich entwickelt, ein Vorgang der unausweichlich erscheint. Denkt man den Gedanken des Protestes weiter, so folgt fast unweigerlich ein Wille zur Veränderung, der in der Kreuzung mündet etwas zu tun, oder zu resignieren. Beschäftigt man sich intensiver mit der Szene wird erkennbar, dass sich Gothics häufiger mit sozialen Missständen auseinandersetzen und gewillt sind etwas zu unternehmen und sich zu engagieren, als das bei anderen musikalisch orientierten Jugendkulturen der Fall ist.  „Der erwähnte Pessimismus bezüglich der menschlichen Zukunft kann fatalistisch sein, aber auch Motor für soziales Engagement.1

Motoren brauchen einen Kraftstoff, mit dem sie funktionieren. Menschen brauchen einen Antrieb, der sie motiviert. Mitunter bedarf es drastischer Darstellungen, die Aufmerksamkeit der Reizüberfluteten Gesellschaft zu wecken. Die breite Gesellschaft ist mit all ihrer Ignoranz auch in der Gothic-Szene angekommen, hat sich wie ein Virus der Oberflächlichkeit durch die Subkultur gefressen, das was wir ablehnen sollten, ist Bestandteil geworden. Bereits im Jahr 2000 schrieb der Leipziger Kreuzer: „Es zeigt sich erneut, dass die Szene an sich keine konkrete Aussage liefert. Die verkörpert jeder für sich – geistvoll oder stumpfsinnig – und nur das ist selbstverständlich individuell. Wenn sich die Szene trifft, verbirgt sich dahinter kein besonderes Unterstatement. Dann ist das vielmehr entspanntes Feiern & Ficken.2 Interesse daran, die Augen zu öffnen? Lesen, Video schauen, verstehen, handeln.

Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet. Gestorben wird überall gleich. Ob in den somalischen Flüchtlingslagern, den Elendsvierteln von Karatschi oder in den Slums von Dhaka, der Todeskampf folgt immer denselben Etappen. Bei unterernährten Kindern setzt der Zerfall nach wenigen Tagen ein. Der Körper braucht erst die Zucker-, dann die Fettreserven auf. Die Kinder werden lethargisch, dann immer dünner. Das Immunsystem bricht zusammen. Durchfälle beschleunigen die Auszehrung. Mundparasiten und Infektionen der Atemwege verursachen schreckliche Schmerzen. Dann beginnt der Raubbau an den Muskeln. Die Kinder können sich nicht mehr auf den Beinen halten. Ihre Arme baumeln kraftlos am Körper. Ihre Gesichter gleichen Greisen. Dann folgt der Tod. 2

Jeder kann etwas tun. Geld spenden, regionale Erträge kaufen, protestieren, wählen, sich informieren, eine Meinung haben, die Stimme erheben. Jedem ist klar, dass Veränderungen Zeit brauchen. Resignation sollte nicht der Weg sein. „Es gibt ein Leben vor dem Tod. Der Tag wird kommen, wo Menschen in Frieden, Gerechtigkeit, Vernunft und Freiheit, befreit von der Angst vor materieller Not, zusammenleben werden.2 An diesem Tag tragen die echten Gothics nicht mehr schwarz.

Einzelnachweise

  1. Quelle: Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e.V. REMIND – Gothic Subkultur, abgerufen am 27.207.2011 http://www.remid.de/index.php?text=info_gothic[]
  2. Quelle: Kreuzer, Ausgabe Juni 2000[][][]
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Guldhan
Guldhan(@guldhan)
Vor 13 Jahre

Die eine Seite der Welt verendet an Überfressung. Wälzt Forschungsergebnisse sowie Diätpläne, um sich noch ein paar Jahre länger auf Erden anöden zu können. Und die andere Seite verendet an Unterernährung und besitzt nicht mal mehr die Energie für den Gnadenschuss.
Zwei Extreme, die rein theoretisch zu einem guten Mittelweg führen müssten. Rein theoretisch.
Ich bin zwar kein Globalökonom, aber ich schätze einmal, dass uns das Prinzip des Kapitalismus vor dieser Utopie bewahrt. Wahrscheinlich wurden von der Seite ein paar Worten der Vernunft beigesteuert.

Davon einmal abgesehen. Industriegebiete versiegeln Oberflächen. Dämme richten Ökosysteme zu Grunde. Fischerkolonnen zerren die Meere aus. Wilderer schießen ganze Tierarten in die Geschichtsbücher. Raubbau. Hektarweise kontaminierte Monokultur-Landschaften. Toxische Mienengebiete. Lecke Ölwege. Regenwaldrodung in Ländergröße et cetera.

Alles entstand aus Gier oder Elend. Beides patentierte Erfindungen der Menschheit, die man so bei keiner anderen Spezies vorfindet. Lebt das Individuum einer Art doch für deren gesicherten Fortbestand und nicht für den persönlichen Gang über Leichen.
Und ist ein Lebewesen schützenswert, dass sich und seiner Umwelt freiwillig und wissentlich derartiges antut? Ein Lebewesen, das den Status des Parasiten längst hinter sich gelassen hatte und sich zum Parasitoid erhob.
Ethisch und moralisch können hierbei einige Argumente aufeinanderprallen…

[…]Der Tag wird kommen, wo Menschen in Frieden, Gerechtigkeit, Vernunft und Freiheit, befreit von der Angst vor materieller Not, zusammenleben werden.»2 An diesem Tag tragen die echten Gothics nicht mehr schwarz[…]

Ich würde für mich sagen: Dann erst recht.
Alleinige Harmonie ohne Gegenpol ist ebenso gefährlich wie reine Gewalt. Da Harmonie innerhalb von Harmonie nicht mehr als solche erkennbar ist und somit nicht mehr als Glück empfunden wird. Was daraus resultieren wird, ist brodelnde wie tickende Langeweile.

Zudem ist für mich das Schwarz doch eher Ästhetik als Protest.

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