Das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig ist zu Pfingsten eine Stadt voller Missverständnisse. In der weltweit größten Begegnungsstätte, die sich über das gesamte Stadtgebiet erstreckt, kommt es immer wieder zu spannenden Begegnungen zwischen den Stinos (Stinknormalen) und den Gruftis (deutsch für „Gothics“). Olaf Parusel vom MDR versteht sich als journalistischer Mediator, der mit seinem Artikel „Sieben Tipps: Was Interessierte beim WGT unbedingt vermeiden sollten“ eine Art Knigge herausgebracht hat, wie sich neugierige Besucher verhalten sollten, um uns – die schwarz gekleideten Wesen der Nacht – nicht vor den toupierten Kopf zu stoßen. Das Lesen seines wirklichen gelungenen Artikels – und das ist das Einzige, was ich in diesem Artikel absolut ernst meine – sollte vor dem Konsum meiner Zeile unbedingt durchgeführt werden. Sowieso glänzt der MDR durch seine gut gefüllten Seiten zum WGT 2023.
Im Folgenden habe ich die Sieben Tipps beim MDR durch meine Kommentare ergänzt:
1. Beim WGT gibt es eben doch Verkleidungen
Es wäre ja auch zu einfach gewesen, einfach jedes Outfit als gelebte Identität anzuerkennen. „Das sind keine Verkleidungen! Das ist gefühlte Identität, die sich in der Kleidung zeigt.“ Aber das in schwarzem Latex gekleidete menschliche Pferd, das an einem Halsband über das viktorianische Picknick gezogen wird, ist vermutlich gar kein Pferd. Die beiden Krankenschwestern in High Heels und blutverschmierten Strapsen sind wahrscheinlich nicht im Krankenhausbereich tätig und auch die Elfen und Orks, die man auf dem viktorianischen Picknick entdeckt, haben kein Wurmloch nach Mordor aufgetan. Und ob die mit Zahnrädern, Maschinen und Waffenattrappen ausgestatteten Steampunks wirklich etwas mit Punks zu tun haben, wage ich zu bezweifeln. Auch wenn es lieb gemeint ist. Auf dem WGT gibt es auch Verkleidungen.
2. Goths rennen auch durch Leipzig
Ja, Olaf hat recht. Wir laufen nicht. Was von außen allerdings so aussieht, als würden wir „stolzieren, flanieren oder schreiten„, sind in Wahrheit die krampfhaften Versuche, mit dem gewählten Outfit zurechtzukommen. Mit 10 cm Plateaustiefel läufst du eben wie auf einem Sack Nüsse, bei High Heels in der gleichen Höhe ist es wie ein Akt auf dem Drahtseil und auch mit dem ursprünglichsten Schuhwerk alteingesessener Goten, den Pikes, ist der damit Laufende eher damit beschäftigt, nicht über die Spitzen seiner Schuhe zu stolpern. Wir Gruftis müssen uns beim Gehen eben konzentrieren. Es gibt aber auch Gruftis mit Turnschuhen. Und die Laufen. Zu jedem WGT durch Leipzig.
3. Nicht ohne Bändchen zum WGT?
Im Gegenteil. Eine aktive Community arbeitet jährlich daran, ganze Facebook-Gruppen mit den Möglichkeiten zu füllen, die an Pfingsten ohne das begehrte Bändchen besucht werden können. Natürlich sind diese Nebenaktivitäten selten kostenfrei. Leipzig ist zu Pfingsten ein dunkelbunter Spielplatz, bei dem unzählige Veranstaltungen dazu einladen, Gemeinschaftsgefühl und „Treffencharakter“ zu (er)leben. Mit oder ohne Bändchen. Voyeuristen haben zum WGT übrigens ihr eigenes Treffen. Am Freitag um das viktorianische Picknick herum, auf dem Platz vor der Moritzbastei oder auch an den Bierbuden vor dem AGRA-Gelände. Häufig mit Eis in der Hand, Handy in der Hand, Kamera um den Hals und mit bequemen Klamotten. Ich wette, so mancher leidende Grufti beneidet die feschen Sandalen der Voyeuristen, wenn die Sonne und das viele „stolzieren und schreiten“ für ordentlich Saft im Schuh gesorgt haben.
4. Mehr als nur schwarze Kleidung
Olaf schreibt in seinem Artikel: „Aber wissen Sie, wie Sie so richtig beim WGT auffallen – und zwar negativ? Indem Sie beim EBM-Konzert im Hawaiihemd vor der Bühne stehen. Oder in Fußballmontur am Viktorianischen Picknick teilnehmen wollen. Tun Sie das niemals. In Ihrem eigenen Interesse!“ Genau! Sonst machen wir nämlich genau sowas (1:01):
5. Keine Aggressionen beim Wave-Gotik-Treffen
Oh, wie hat der Olaf recht! Durch jahrelange Traurigkeit, in Überdosen eingenommene Melancholie und der Liebe zum Weltschmerz haben wir die Aggressionen aus unserer Gefühlswelt gestrichen. Wir wissen einfach, dass der Tod und das Verderben unausweichlich sind, die Welt als einziger Trümmerhaufen vor uns liegt und der Mensch die einzige Bestie ist, die diese Ruinen bevölkert. Wir haben resigniert und machen das Beste daraus, Aggressionen ändern auch nichts am Unausweichlichen. Das WGT 2000 fortzuführen, war die einzig logische Option. Die Hotelzimmer waren gebucht und bezahlt, die kunstschaffenden Menschen standen auch bereit und alle Freunde und Bekannte waren auch angereist, um den bevorstehenden Weltuntergang zu zelebrieren. Aggressionen sind eben dumm. Und Gruftis sind klug.
6. Auf dem Wave-Gotik-Treffen niemals protzen
Eben. Lasst den Ferrari und die Markenklamotten zu Hause. Das macht auch überhaupt keinen Sinn. Denn egal, was ihr Stinos da draußen so anstellt, um aufzufallen. Wir sind geiler. Fast so geil wie Olaf, den ich für diese Zeilen einfach knutschen könnte: „Goths schätzen das Leben in seiner existentiellen Tiefe – gerade angesichts unserer Sterblichkeit. Die Szene verweist durch ihr Verhalten und das Äußere auf das Innere. Anerkennung erhält man durch konsensfähige oder stilprägende Ideen kreativer Art, seien es Outfits, Kunstwerke, Gedanken oder Musikstücke.“ Chapeau, Olaf. Quintessenz ohne Pathos beim Öffentlich-Rechtlichen. Ganz großes Kino.
7. Niemals ungefragt Fotos schießen
Den Punkt hat Olaf schnell ergänzt, als er mitbekommen hat, wie viele Menschen das in den sozialen Medien ergänzten. Aber Goth bewahre, wenn sich alle daran halten würden! So würden ja die jährlichen „WGT-Charts“ völlig durcheinander geraten. Wer ist der am häufigsten fotografierte Grufti? Welche Grufti erscheint denn nun in der „BILD“ als Stereotyp der Szene? Und auf welches Accessoire muss ich nächstes Jahr verzichten, weil es dieses Jahr wirklich jeder hat? Möglicherweise kann ich einen Kompromiss vorschlagen. Die Gruftis verkaufen Bilder mit sich! Damit haben die Punks schon in im London der 80er-Jahre einen kleinen Zusatzverdienst gehabt. Und das sind ja irgendwie unsere Vorfahren. Allerdings weiß ich noch nicht, ob Bilder, auf denen wir lächeln, teurer sein sollten als die, auf denen wir traurig gucken.
Besagter Olaf vom mdr ist übrigens eine echte Szenegröße a. D. Mit seiner Neoklassik-Band Stoa füllte er in den späten 90er und frühen 00er Jahren zu etlichen WGTs spielend das bekanntermaßen recht geräumige Schauspielhaus…
Ach ja… Und jener Olaf vom mdr schrieb auch die Musik für das Debutalbum von Pahl!, einer elektronischen Band, der interessanteren Sorte, die diesmal erstmals beim WGT auftritt… im Schauspielhaus…
Beherzte Versuche, Stoa zu einem Comeback beim WGT zu bewegen, sollen dem Vernehmen nach vorerst gescheitert sein. Schön wäre es gewesen!
Vor wenigen Jahren waren Stoa ja beim WGT-Warm up als inoffizielle Band angekündigt. Aber ich hab aufgeschnappt, dass das Konzert leider ohne Sängerin stattgefunden haben soll und entsprechend nur die Songs mit seinem Gesangspart gespielt wurden.
Die Musik von sToa darf bei mir nicht fehlen. Von Pahl! bin ich persönlich nicht ganz so beeindruckt. Aber die Geschmäcker sind ja verschieden. ;)
Ich scheitere schon am Verständnis dafür, wie jemand gestrickt sein muss, um mit einem solchen Outfit wie auf dem Foto auf einer schwarzen Veranstaltung aufzukreuzen.
Aber vielleicht bin ich einfach nur zu traditionell… 🤔
Damit bist du nicht alleine… Manche Leute scheinen zu denken, dass das WGT ein Sammelbecken für jegliche Art von selbstdarstellerischen Freaks ist… Ich kann da auch nur mit den Augen rollen.
Ich schließe mich Deinen traditionellen Gedanken mit an und sehe das genauso wie Du. ;) Deshalb bringe ich für solche Outfits auch wenig Verständnis mit.
Genauso wenig für Menschen in Latex-Pferdekostüme, die mir vor Jahren auf dem AGRA-Gelände über den Weg gelaufen sind….
Wenn du als „Protest“ betrachtest, der auf das „Verkleidungsphänomen“ aufmerksam macht, KANN es legitim sein. Allerdings wird das hinfällig, wenn die Protagonisten auf dem Bild es wirklich ernst gemeint haben :)
Ich würde obiges Bild von den Herrschaften in Spandex allerdings keinesfalls als repräsentativ für das WGT sehen – immerhin ist es von 2017, wenn nicht noch älter. Gab also seitdem anscheinend keinen weiteren Fall, den man so schön ausschlachten kann.
Ich kann nicht so ganz verstehen, warum man den paar Einzelfällen überhaupt so viel Gewicht beimisst. Ok, da haben sich also ein paar Leute unter Tausenden(!) mal ein wenig unpassend angezogen und etwas rumgeposed – da dreht man sich um und läuft weiter, schmunzelt vielleicht ein wenig und hat’s nach fünf Minuten schon wieder vergessen. Das 6 Jahre(!) später nochmal rauszukramen kommt mir ausgesprochen seltsam vor.
Und wenn einen wirklich so sehr interessiert was in den Leuten vorgeht kann man sie ja einfach mal fragen, oder? So wie die beiden älteren Damen in Pastell ja auch einfach die Leute in schwarz fragen könnten, warum sie sich so kleiden wie sie sich kleiden. Oder ob die sich wohl auch grad fragen, wie jemand gestrickt sein muss, um sich komplett schwarz anzuziehen? Ob sie sie wohl auch für selbstdarstellerische Freaks halten? Und ob sie wohl auch sechs Jahre später immer noch darüber lästern?
Oder aber sie drehen sich um, schmunzeln ein wenig und vergessen es sofort wieder. Auch möglich.
Ich werd diese Fokussierung auf die Outfits von anderen Menschen wirklich nie verstehen. Grade im echten Leben ignoriert man das doch einfach, oder man macht ihnen ein Kompliment. Aber man redet man doch nicht noch Jahre später drüber, dass es da mal Leute gab die man doof angezogen fand …
Ich möchte nur mal an alle appellieren. Es geht hier NICHT um das Bild, es passte zu diesem humorvollen Beitrag und sollte jetzt nun wirklich nicht zu einer Diskussion im Sinne von „wie kann man nur so aufkreuzen“ führen, sondern nur den Artikel hinsichtlich meiner Vermutung, dass es auf dem WGT nun eben doch Verkleidungen gibt, unterstreichen.
Ich habe es nicht „rausgekramt“, um es zum inhaltlichen Gegenstand dieses Artikels zu machen.
Der Vollständigkeit halber: Das Bild ist 10(!!!) Jahre alt, kann aber mit Sicherheit spielend gegen Bilder neuern Datums ersetzt werden.
hm, ich finde es auch nicht so toll, ist schliesslich keine faschingsveranstaltung, da kann man jetz darüber diskutieren ob wir also die szene intolerant sind, oder nicht, aber es muss auch nicht jeder faschingsclown und stino dort aufkreuzen, okay kann man den leuten ja nicht verbieten, es darf jeder kommen und sich die veranstaltung anschauen.
Ich wusste nicht, daß dieses Bild schon so viele Jahre auf dem Buckel hat und wollte jetzt auch keine Diskussionen darüber auslösen.
Sorry dafür! Aber ich stehe ungeachtet dessen trotzdem zu dem, was ich geschrieben habe. 😉
Ich halte es so wie Blackangel, das hat für mich halt etwas mit Respekt zu tun. Aber das darf natürlich jeder sehen wie er oder sie möchte…
Im Prinzip hat Yttrium recht, das es grundsätzlich einem in Bezug auf das Outfit anderer egal sein kann. Ob man nach Jahren noch darüber redet, sollte doch jedem selbst überlassen sein. Ich finde diese Diskussion nicht unbedingt falsch oder zu oberflächlich.
Aber wenn generell jeder so fragwürdig z.B. auf dem WGT rumlaufen würde, könnte man gleich den Kölner Karnevalverein mit auftreten lassen und irgendwo geht dabei die Ernsthaftigkeit hinter dem ganzen verloren. Am Ende stehen wir dann auch nur als ein paar lustige schwarz verkleidete Individuen da. Ich denke da spreche ich für viele, das es eben nicht so ist, sondern für jeden einzelnen ein gewisses Lebensgefühl bedeutet! Deshalb stehe auch ich weiterhin zu meinem vorherigen Kommentar!
Robert Natürlich habe ich den Beitrag ebenfalls als Humor aufgefasst.
Genauso sehe ich es auch, denn solche mehr oder weniger ernst gemeinten Verkleidungen können, wenn sie Nachahmer anziehen, dazu führen, dass das Gefühl, sich auf einer Veranstaltung der Schwarzen Szene zu bewegen, doch ziemlich getrübt (verfärbt) wird. Dann geht etwas verloren, das Gemeinschaftsgefhl und das Gefühl, sich unter Gleichgesinnten zu bewegen. So ging es mir damals auch, als die Cyber-Welle massiv wurde und man beim WGT fast mehr (Neon-)Bunt als Schwarz sah. Damals hatte ich dann auch keine Lust mehr aufs WGT und bin ihm fast zwei Jahrzehnte fern geblieben.
Wenn es einem nicht passt kann man immer wegbleiben, richtig. Ich geh ja auch nicht mehr auf’s WGT wegen (u.a.) der Mittelalter-Leute, wegen der Polyester-Rüschen-Fraktion und wegen Steampunk, die durch das Heidnische Dorf und das Viktorianische Picknick sogar noch ganz offiziell einen roten Teppich ausgerollt bekommen. Ich sehe die Veranstaltenden da viel mehr in der „Schuld“ (wenn man davon überhaupt reden kann) als das Publikum.
Natürlich hab ich absolut nichts gegen Mittelalter, Rüschen und Steampunk per se, die Leute haben jedes Recht der Welt zum WGT oder MPS oder was auch immer ihnen gefällt zu fahren, nur wird für mich persönlich das entsprechende Event uninteressanter. Aber ich bin ja nicht das Zentrum der Welt um das sich alles dreht – wenn die Veranstaltend ihr Angebot ändern und dadurch ein anderes Publikum ansprechen ist das ihr gutes Recht, meine persönliche Meinung dazu ist vollkommen irrelevant und wird nichts daran ändern.
Und deswegen lästere ich nicht über die Leute sondern geh einfach auf andere Festivals oder Konzerte, die mehr meinem Geschmack entsprechen. Von denen gibt es ja glücklicherweise mehr als genug. Das WGT ist da ja nicht die einzige Option, ich vermiss es nicht im geringsten. ;)
Ich finde generell, man kleidet sich dem Anlass entsprechend. Aus Respekt der Veranstaltung oder der Einladung gegenüber. Ich würde nie im Jogginganzug zu einer Hochzeit gehen, nie als buntes Einhorn auf ein Gothic-Festival. Aber auch nicht in voller Gruftmontur in den Bierkönig auf Mallorca (Witz, ich war noch nie dort ;-) Im Grunde genommen ist es doch so: man empfängt dich nach deinem Gewande – man entlässt dich nach deinem Verstande. Kleidung kann also Dummheit nicht wettmachen.
Absolut im privaten Umfeld mach ich generell nicht auf Super-Grufti. Auf dem WGT ist allerdings auch so eine Art „Freiraum“ für alle möglichen Facetten der schwarzen Seele, daher kann ich hier auch viele Dinge „tolerieren“, die ich sonst nach deinem Maßstab als respektlos erachten würde.
Die Szene ist eben so vielfältig geworden und wurde im Laufe der Jahre durch immer mehr Stile beeinflusst, dass es manchmal schwer ist, eine tolerierbare Grenze zu ziehen. Außer bei bunten Einhörnern, da sind wir uns einig. :-)