Joy Division – Atmosphere of Dead Souls

Ich bin großer Fan von Joy Division. Und heute morgen (eigentlich gerade noch passend zum 30. Jahrestag von Ian Curtis‘ traurigem Rockmusiker-Tod) haben mich bei der täglichen musikunterstützten Autofahrt zum Bahnhof Grübeleien über sie erfasst, die es mich drängt niederzuschreiben.

Als ich sie vor einigen Jahren das erste mal gehört habe sind sie gar nicht so wirklich an mich gegangen, da ich den Kopf noch ziemlich mit aggressiverer Musik verstopft hatte. Doch als ich mich einmal wirklich darauf eingelassen und mich in ein Lied verliebt hatte („She’s Lost Control“, siehe ganz unten) war es um mich geschehen. Etwas Vergleichbares ist mir nur einmal passiert, und zwar mit The Cure, die ich zwar aus meiner Kindheit kannte und mochte (das Video von „Boys Don’t Cry“ auf MTV – hachja…), aber auch erst vor ein paar Jahren so richtig für mich entdeckt habe. Und seitdem begleiten mich beide Kapellen, bei denen ich nicht zögere, sie als meine Lieblingsbands zu bezeichnen.

Aber was ist das eigentlich mit Joy Division?

Warum werden sie als eine der Größen der Post-Punk-Bewegung und wichtiger Teil des Fundamentes für Gothic-Rock und die Goth-Subkultur betrachtet?
Warum nennen so viele große Rockmusiker sie als Inspiration, wenngleich sie selbst nie annähernd so groß wurden? Warum ist ihre Beliebtheit bis heute ungebrochen und motiviert auch heute noch Musiker, immer weitere Coverversionen aufzunehmen?

Wie gesagt, den großen Durchbruch (wie eben z.B. The Cure) haben sie ja nie geschafft, der gelang erst den verbliebenen Bandmitgliedern als New Order, nachdem Ian sich erhängt hatte.
Musikalische Qualität kann es im Prinzip auch nicht gewesen sein, denn selten hat man Musik mit so wenigen Gitarren-Akkorden und so simplen Bass-Spuren gehört (die dennoch so verdammt gut ist!). Oft wird man das Gefühl nicht los, dass Peter Hook nur eine grobe Vorstellung seiner Bass-Passagen hat und eher frei mit den drei, vier Tönen variiert, die mit dem Grundton harmonieren. Bernard Sumner erweckt auf den frühen Video-Aufzeichnung auch nicht gerade den Eindruck als habe er all zu viel professionelle Erfahrung an der Gitarre und seine Keyboard-Einsätze bei Live-Aufnahmen sind nicht immer wirklich präzise und der geborene Sänger ist Ian Curtis nun auch alle male nicht, nach klassischen Maßstäben betrachtet.

Und dennoch berührt ihre Musik etwas in so vielen Menschen, dass es eigentlich kein Zufall sein kann.

Ich persönlich habe die Vermutung, dass es vor allem an der Emotionalität liegt, die nicht nur Ians Texten inne wohnt, sondern die auch die ganze Atmosphäre in ihren Liedern ausmacht. Produzent Martin Hannett umriss das Ganze 1979 mit den Worten „dancing music with gothic overtones“, was den Nagel eigentlich auf den Kopf trifft.
Die Musik ist eingängig und tanzbar, doch die vermittelten Stimmungen sind dagegen … ja, gothic eben. Vielleicht nicht ganz so bedrohlich und andersweltlich wie viele der Vorbilder aus der Romantik (Gemälde, Lieder, „Gothic Novels“, etc. über Vampire, Dämonen, Wahnsinn, das Lebendig-begraben-sein, u.s.w.) auf die Hannett ohne Zweifel anspielt, doch kein bisschen weniger düster, bedrückend, aufwühlend und dabei auf fast schon morbide Weise schlichtweg schön.

Gothic als angewandte Romantik (so eine der kunsthistorischen Theorien zur Platzierung der Gothic-Strömung in der Romantik), in einer modernen und sehr persönlichen Blüte (unter anderem) durch Joy Division?

Die Frage muss sich wohl jeder Fan selbst beantworten, aber ich bin geneigt das so stehen zu lassen, gibt es doch Lieder, die mich selbst auf emotionaler Ebene fast ebenso berühren, als ginge es in ihnen um meine eigenen Erlebnisse und nicht um Ians (dabei hat mein Leben glücklicherweise wenig Ähnlichkeiten mit seinem und wenn das Lied vorbei ist, geht es mir wieder gut).

Wenn Ian in „Isolation“ singt

Mother I tried, please believe me,
I’m doing the best that I can!
I’m ashamed of the things I’ve been put through;
I’m ashamed of the person I am!

(„Mutter, ich habe es versucht, bitte glaube mir, ich gebe mein Bestes! Ich schäme mich für das, was ich durchgemacht habe; ich schäme mich, der zu sein, der ich bin!“)

dann muss man seine Lebensgeschichte nicht kennen, um zu wissen, dass dieser Text ganz direkt und subjektiv aus einer zutiefst zerrütteten Seele kommt, was mich persönlich immer sehr rührt. Ebenso geht es mir mit „Love will tear us apart“, dass zwar direkt aus seinem Privatleben gerissen ist, mich aber dennoch jedesmal wieder bewegt, wenn ich es höre oder selbst spiele. Und vielen, vielen anderen Menschen dort draußen geht es offensichtlich sehr ähnlich wie mir:

  • Man führe sich nur einmal vor Augen, dass es mehr Cover-Versionen von eben diesem einen Lied zu geben scheint, als Joy Division jemals selbst Lieder geschrieben haben (ernsthaft, ich komme in meiner Zählung auf 43 Joy-Division-Songs, und bislang auch schon auf sage und schreibe 34 „Love will tear us apart“-Cover…).
  • The Cure z.B. gedachten Ians schon kurz nach seinem Tod und spielten natürlich ihre eigene Version von „Love will tear us apart“ ein (Nummer 28 auf meiner alphabetischen Liste).
  • James O’Barr produzierte aus einer eigenen Verlustsituation heraus von 1981 bis 1989 seinen Comic „The Crow„, der nicht nur (zumindest in meinen Augen) der Inbegriff modernen Gothics ist (romantisch-viktorianische Traditionen transportiert in die Gegenwart und durchsetzt mit Bezügen zur frühen Goth-Szene), sondern der Joy-Division-Songtitel als Kapiteltitel benutzt, ihre Songtexte einstreut und ausdrücklich Ian Curtis als Vorbild für den innerlich zerfressenen und selbstzerstörerischen Hauptprotagonisten Eric Draven heranzieht (für sein Verhalten – für die Optik stand Peter Murphy von Bauhaus Pate) und Nebencharaktere nach Bandmitgliedern benennt („Albrecht“, was ein Pseudonym Bernard Sumners war, und „Hook“).
  • Die bekannte 1994er Verfilmung des Comics mit Brandon Lee benutzt dann auch sehr passend ein „Dead Souls“-Cover von Nine Inch Nails im Soundtrack.
  • 2002 wurden Joy Division in „24 Hour Party People“ erstmals filmisch porträtiert und
  • 2007 folgte mit „Control“ die brilliante Verfilmung von Ian Curtis‘ Lebensgeschichte durch deren ehemaligen Haus- und Hof-Photografen Anton Corbijn, der damit widerum ein neues, jüngeres Publikum an Joy Division herangeführt hat.

Vollends erklären kann ich den Zauber von Joy Division nicht, aber ohne jeden Zweifel ist er da, und er ist heute so lebendig wie eh und je. Was bleibt sind viele offene Fragen, und nicht zuletzt die, ob Joy Division jemals so legendär geworden wären, wenn ihr Schaffen nicht durch Ians Freitod ein so jähes und dramatisches Ende gefunden hätte.

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