Interview mit Delta Komplex: Zwischen Knusper-Erbsen und Musik als Lebenshilfe

Am Morgen des 18.09.2024 beförderte der Facebook-Algorithmus eine Anzeige in meinen News-Feed: In zwei Tagen sollten „The Foreign Resort“ und „Delta Komplex“ im Club meines Vertrauens spielen. Letztere waren mir bis dahin vollkommen unbekannt. Also Songs gegoogelt, Videos angeschaut und direkt in helle Aufregung verfallen. Bis dann gegen Nachmittag die bittersüße Erkenntnis einschlug: Die Kinder waren über das kommende Wochenende ausquartiert und der Freitagabend bereits mit meiner Frau verplant. Statt Delta Komplex im „Rind“ gab es Alien Romulus im CineStar.

Losgelassen hat mich die Band allerdings nicht. Anfang 2025 habe ich dann nochmal Kontakt mit „Delta Komplex“ aufgenommen und ein Interview für Spontis vereinbart. Ich traf Minu (Gesang) und Ollie (Instrumente) anfang Februar in ihrem Studio in Darmstadt. Die Band, die Ende 2019 als Trio gegründet wurde, lässt sich musikalisch am ehesten dem Zuordnen, was aktuell mit dem Label Dark Wave/Cold Wave verbunden wird.

Marc: Vielen Dank, dass ihr euch die Zeit für das folgende Interview genommen habt. Könnt ihr euch den Lesern kurz vorstellen?

Minu: Ich bin Minu. Ich bin 46, komme ursprünglich aus dem kleinen, aber feinen Ort Lindlar in der Nähe von Köln. Habe auch sehr lange in Köln gewohnt und wohne seit ungefähr neun Jahren in Darmstadt. Was ist mir wichtig? Ich bin ehrenamtlich als Fledermausschützerin tätig und das ist mir mindestens genauso wichtig wie die Musik, die man zum Ausgleich macht.

Ollie: Ich bin der Olli. Ich kann auf jeden Fall sagen, dass ich Musik mache, seit ich vierzehn bin. Das hat immer eine große Rolle in meinem Leben gespielt. Auch durch meinen Vater, der Gitarre und Keyboard gespielt hat. Ich selbst habe eher mit so Hip-Hop-Sachen angefangen. Das war mein Einstieg. Anschließend habe ich alles, was ich interessant fand, durchgearbeitet. Und irgendwann bin ich zu den Grufti-Sachen gekommen.

Delta Komplex

Wie seid ihr damals in der schwarzen Szene gelandet? Was hat euch besonders angesprochen?

Minu: Mit dreizehn oder vierzehn habe ich ständig die Mixtapes von meinen Schwestern geklaut und festgestellt, dass da sehr viele geile Sachen drauf waren, die mich angesprochen haben. Das war dann kein Standard, das war so was wie Das Ich, Silke Bischoff, Deine Lakaien oder Skinny Puppy. Das fand ich super interessant und super düster. Und das war mein erster Kontakt mit der Szene, ohne dass ich überhaupt wusste, was Gothic oder Grufti überhaupt ist. Und ich weiß noch, früher gab es einen Fernsehbericht über einen Kindergärtner, der Grufti war, und der hat mich total fasziniert und beeindruckt. Im Grunde genommen bin ich erst sehr spät in die Szene selbst reingekommen. Ich durfte erst mit achtzehn weggehen, was mit meinem Elternhaus zu tun hatte. Da war ich mit meiner Schwester auf einer Depeche Mode Party und ich fand alles andere, ich meine Depeche Mode fand ich natürlich auch gut, aber ich fand alles andere geiler, was da lief und dachte in dem Moment, jetzt bin ich angekommen, jetzt bin ich zu Hause. Das war mein Einstieg.

Ollie: Boah. Ich weiß gar nicht, ich war nie wirklich in dieser Szene, glaube ich. Beziehungsweise bin ich erst spät eingestiegen. Als Jugendlicher habe ich Berührungspunkte gehabt, war aber musikalisch und genretechnisch breiter orientiert. Wir haben damals eher Hip-Hop gehört und haben trotzdem mit Gruftis rumgehangen. Man hat sich gut verstanden und dadurch gegenseitig musikalisch beeinflusst. Ich habe immer eine Faszination für düstere Musik gehabt. Und es gab zumindest einen Referenzwert, der ein Orientierungspunkt war. Die Szene bei Der kleine Vampir, wo die auf dem Dach alle tanzen, wo dieser Lumpi eine Party feiert.

Minu: Ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja.

Ollie: Und ich dachte, wow, das ist der Inbegriff für eine geile Party und auch für was, was ich spannend, anziehend und interessant finde – weil die alle so einen krassen Bat-Cave-Look hatten. Dann dieser Track, der da lief, der war ziemlich cool. They can see in the Dark war der geile Track von Dark Room. Mich hat diese düstere und dunkle Art fasziniert.

Welche Konzerte und Festivals habt ihr in eurer Anfangszeit besucht?

Minu: Am Anfang hast du alles mitgenommen, was es in der Gegend gab. Natürlich ist man aufs WGT und Mera Luna gegangen. Damals gab es auch noch das Zillo Festival. Und möglichst alle Konzerte mitgenommen, die damals gothicmäßig waren.

Ollie: Ich muss echt scharf überlegen. Ich habe keine Ahnung. Ehrlich gesagt. Denk das war Death Metal.

Waren in euren Anfangstagen Rebellion und Selbstausgrenzung ein relevantes Thema?

Minu: Wer in der Szene ist, wird nicht leugnen können, dass das definitiv ein Thema ist. Dass man sich einerseits von der Gesellschaft abgrenzt und dass es eine Art und Weise von Rebellion gibt, wogegen auch immer. War bei mir auch so und in erster Linie gegen mein strenges Elternhaus gerichtet. Nachher kam das Gesellschaftliche. Das Gesellschaftliche, dass du jemanden nur abstempelst nach dem, wie er aussieht.

Du siehst jemanden mit dunkel gefärbten Haaren, Nietenhalsband, Lederklamotten und die meisten Leute haben dich direkt als Satanist beschimpft und die Straßenseite gewechselt. Bei mir auf der Arbeit als Physiotherapeutin, da haben die Leute erstmal blöd geguckt, wenn sie eine Therapeutin mit einem halbabrasierten Schädel hatten, mit der klassischen Lacrimosa-Strähne vorne. Dann kam das Vorurteil, die kann keine gute Therapeutin sein, die ist tätowiert und hat überall Piercings. Und nachher kam na ja, es war doch echt ganz gut. Im Grunde genommen kannst du nicht hinter die Fassade gucken. Und das ist das Wichtige, dass du dir die Mühe machen musst, hinter diese Fassade zu gucken und dich mal von dem zu entfernen, was du siehst. Und dahinter steht nicht das harte Satanisten-Kind, was Katzen opfert, sondern vielleicht eine sensible Seele, die in ihrer Art und Weise eine Rebellion macht, aber innerlich aufschreien möchte.

Irgendwie polarisieren möchte und der Gesellschaft vielleicht zeigt, wo der Fehler ist. In unserem System nämlich. Dass du eben viel zu schnell urteilst, ohne genau hinzugucken. Was jeder irgendwo macht. Was irgendwo gesund ist, denn letztendlich hat uns das evolutionär geschützt. Andererseits muss man sich doch ab und zu Mal Mühe machen.

Ollie: Ja, schon irgendwo. In meinen Jugendjahren hatte ich Baggyhosen an, die am Arsch gehangen haben. Die Lehrer und alle anderen haben sich gefragt, was soll das? In Bezug auf Gothic ist die Gemeinsamkeit, dass man individuell sein will, sich ausdrücken will und den Ausbruch wagen möchte. Das ist die Geste, die sagen will, ich fühle mich anders in der Gesellschaft. Ich fühle mich nicht konform mit dem, was alle gut finden, und habe das Gefühl, da läuft was schief und ich will mich ausdrücken, wie ich das möchte und will mich mit Themen beschäftigen, die ich wichtig finde. Und da ging es darum, Texte zu schreiben, die gesellschaftskritisch oder provokant sind oder eine feine sprachliche Ebene haben. Deswegen würde ich sagen, dass Abgrenzung eine Rolle gespielt hat. Allerdings wird man irgendwann ja auch ruhiger. Es ist eine sehr jugendliche Sache, dieses provozieren oder anecken wollen. Oder gucken, wie kann man sich einordnen. Irgendwann wird man zum einen selbstbewusster damit, dass man ist, wie man ist. Man hat nicht mehr diesen Drang, man will provozieren, sondern man ist so und das macht es für einen normal in dem Moment.

Minu: Polarisieren ist heute wesentlich schwieriger als bei uns früher. So wie ich zum Beispiel aussehe. Mittlerweile fällt es nicht auf, weil jeder tätowiert und gepierct ist oder die Haare abrasiert hat. Damit kannst du keinen mehr schocken. Es ist unglaublich schwierig zu polarisieren. Mittlerweile allein nur durch die Optik. Obwohl ich mit oft anhören muss, ich könnte so ein hübsches Mädchen sein, wenn ich nicht abrasierte Haare hätte und von oben bis unten tätowiert wäre.

Ollie: Der Schockmoment ist das, was heutzutage etwas weird ist. Wo man sagen muss: Was soll das? Ich habe das Gefühl, früher hat es viel mehr Relevanz gehabt als heute. Vielleicht ist es auch eine positive Entwicklung. Man muss sich gar nicht mehr so arg optisch abgrenzen. Weil alles vielfältiger geworden ist. Verwandelt sich von Rebellion zu einer Art Individualität.

Delta Komplex
Delta Komplex | (c) Boris Schöppner

Gab es bezüglich deiner oder eurer Szenezugehörigkeit Konflikte in der Familie?

Minu: Ja. Klares Ja. Mein Vater ist Perser. Und damals noch recht konservativ gewesen, was das Familienbild angeht. Hat sehr versucht sich anzupassen, an die deutsche Kultur. Aber es war ein Riesenthema bei meinen Eltern damals – auf jeden Fall. Jetzt haben sie sich langsam dran gewöhnt – nach über dreißig Jahren. Meine 83-jährige Mutter war mit meinen Geschwistern sogar in Köln beim Konzert dabei. Mein Vater findet es auch toll, was wir machen.

Ollie: Bei mir war es ähnlich. Wenn man Dinge anders macht, anders aussieht – wie auch immer – dann kommt man oft in Konflikt mit dem, was normal ist. Meine Eltern sind im Grunde total offen. Manche Sachen haben sie trotzdem nicht verstanden. Da gab es üblicherweise auch Konflikte.

Minu: Wenn man keine Konflikte mit seinen Eltern hatte, stimmt glaube ich irgendwas nicht ;-)

Wie würdet ihr die Entwicklung der Szene von eurem Einstieg bis heute beschreiben?

Minu: Das ist ein interessantes und vielleicht auch schwieriges Thema. Es gibt einerseits die alten Hasen, die noch an dem Alten verhaftet sind und noch sehr in der Vergangenheit leben. Aber es gibt durch einen Generationswechsel wieder Neues. Und diese neue Generation, die sieht teilweise nicht mehr so gothicmäßig aus. Wir würden das fast als Hipster bezeichnen. Manchmal siehst du gar nicht, dass sie diese Musik hören. Allein durch die ganzen Sozialen Medien hat sich die Szene zum Kommerziellen entwickelt. Früher war es viel DIY mit den Klamotten. Inzwischen hast du ganz viele Klamottenläden, Labels und es wird alles vermarktet. Und im Grunde ist die Szene viel, viel, viel, viel kommerzieller geworden. Ohne das Alte richtig loszulassen. Ich glaube, dass sich das in einer Art und Weise weiterentwickelt hat, aber auch irgendwo hängen geblieben ist.

Ollie: Würde ich auch sagen. Ich bin nicht jemand, der von Anfang an dabei war, würde aber auch behaupten, dass die Szene sehr kommerzialisiert wurde. Früher musste man sich Dinge zusammensuchen oder schwarze Bademäntel aus Seide anziehen, weil man sich so was nicht bei irgendwelchen Mailorders bestellen konnte. Wenn man sich ein Festival wie das WGT anschaut, was jedes Jahr teurer wird und früher mal auch klein war, und jetzt ist das eine Art schwarzer Karneval geworden.

Minu: Ja!

Ollie: Ist schon seltsam. Auf der anderen Seite, ich denke, sowas fördert auch den Underground. Ich glaube noch an Underground.

Minu: Ist das noch Underground?

Ollie: Irgendwann, wenn die Szene zu groß und innerhalb der Szene alles gleichförmiger wird, braucht man eben diese Randerscheinungen und die Ecken und die Kanten, um dem Ganzen wieder Charakter und Individualität zu geben. Und das ist da, wo die Leute hingehen, die wirklich daran interessiert sind, so eine Art Szene zu kreieren oder eine neue Art musikalische und visuelle Ästhetik abzufeiern, die neue Stile schaffen, die kumulieren sich in kleinen Schmelztiegeln. Und da hat man das Gefühl, okay, die Szene hat sich von dem, was sie früher war, so was undergroundiges, zu einer Art Mainstream entwickelt. Innerhalb dieses Mainstreams gibt es trotzdem diese Bewegung, nicht zurück, sondern irgendwie neu.

Subkultur in der Subkultur?

Ollie: Ja, genau! Es entstehen neue Stile dadurch, was total cool ist. Ich finde das gut. Alles, was neu ist, finde ich spannend. Alle neuen Kombinationen dieses Genres, alle neuen Techniken, die man benutzen kann, alte Techniken, alte Synthesizer, neue Synthesizer. Man kann sich an der ganzen Palette bedienen und neue Dinge kreieren.

Delta Komplex
Delta Komplex – (c) Boris Schöppner

Wie seht ihr die weitere Entwicklung der Szene?

Minu: Das ist schwer zu sagen. Durch diese ganzen modernen Medien hast du eine wahnsinnig schnelle und sehr flatterhafte Entwicklung. Und man muss gucken, dass man das Ganze am Leben hält. Die Frage ist nur: Wie? Eben durch die kleinen Schmelztiegel an Subkulturen innerhalb der Szene. Dass es Leute gibt, die Bock draufhaben, selber was zu machen, selber zu veranstalten und sich dafür ins Zeug legen und ihre ganze Leidenschaft da reinstecken. Ob das Veranstalter, Clubbetreiber oder Labels wie Young and Cold und Cold Transmission sind. Alle die sich dazu berufen fühlen, für die Musik einzustehen. Deswegen ist es schwierig zu sagen, wo geht das hin? Wir sind jetzt an dem Punkt, wo wir so in einem Mainstream sind, dass viele sich was Kleineres wieder zurückwünschen und dadurch entstehen diese Schmelztiegel.

Du beziehst dich auf den Bereich, den ihr mit Eurer Musik bedient. In der Szene gibt es weitere Bereiche, die den szeneinternen Mainstream ausmachen. Zum Beispiel Future Pop oder Aggrotech. Habt ihr da gedanklich einen Haken dran gemacht? Damit beschäftige ich mich gar nicht mehr?

Ollie: Das geht mir tatsächlich so. Das holt mich gar nicht ab. Es gibt nichts daran, was ich in irgendeiner Form interessant oder schön finde. Ich weiß, es ist okay, dass es existiert. Aber ich muss mich damit nicht beschäftigen. In welche Richtung wird sich die Szene entwickeln? Ich glaube, dass es in der Welt, in der alles möglich und sehr vieles zugänglich ist, in der alles weniger individuell zu sein scheint. Dass es eine Zurückentwicklung zu individuellen Erfahrungen gibt, eine Pendelbewegung zurück zu einer persönlichen Erfahrung. Partys ohne Kamera, wo es wirklich um die Erfahrung vor Ort geht, um Künstler, die mit analoger Technik auftreten, die individuell sind, die neue Dinge dadurch erschaffen.

Ohne Kamera wäre sehr wünschenswert.

Minu: Ja, ich finde das auch blöd. Du beschneidest dein eigenes Erlebnis. Du kriegst da gar nichts mehr mit, wenn du die ganze Zeit mit dem Handy irgendein Konzert filmst oder ständig ein Selfie vor der Bühne machst für deine Instagram-Story. Letztendlich geht es um das Erleben eines Konzerts.

Ollie: Und das ist der Punkt, wo Underground aufhört, wenn alles fest festgehalten, verfügbar und postbar wird. Auch hierdurch könnte die Formation eines neuen Undergrounds vorangetrieben werden.

Welche Bedeutung hat Musik für euch?

Minu: Für mich ist Musik eine Art Lebenselixier. Ich kann mir das Leben gar nicht ohne Musik vorstellen. Auch als Konsument. Musik hat mich immer beeinflusst. In allem. Bereits als Kind. Musik ist und bleibt was wahnsinnig Wichtiges und Essentielles in allen meinen Lebensbereichen.

Ollie: Musik höre ich und es löst irgendwas in mir aus, eine Gefühlsreaktion, eine Atmosphäre. Das ist sehr schwer durch andere Dinge hervorzurufen bzw. hat eine andere Qualität. Durch Lesen oder durch andere Kulturprodukte, die man konsumieren kann, geht es auch. Aber Musik wirkt unmittelbar, ganz ohne Übersetzung, ohne Transferleistung oder Interpretation. Der erste Kontakt mit der Musik ist direkt das Gefühl, was so ohne Intention erreicht und da berührt, wo man selbst so seine Stellen hat.

Minu: Musik als Lebenshilfe.

Ollie: Ja, als Lebenshilfe, aber eher indirekt, wenn Musik als Auslöser einer direkten Verbindung zu dir selbst oder zwischen anderen und dir funktioniert. Das ist das Gefühl, das habe ich öfter mal, wenn wir mit der Band zusammen live spielen. Dann passt alles zusammen und jeder weiß, das ist magisch. In dem Moment fühlt sich das wie Magie an und alle gucken sich an und alle wissen, wir machen gerade alle das Richtige und es passt alles perfekt zusammen. Das ist ein Gefühl, ich weiß nicht, wo ich das sonst so gefühlt habe. Das ist Musik für mich.

Könnt ihr beschreiben, was ihr in euch fühlt, wenn ihr Musik hört?

Minu: Genau das, was Ollie beschrieben hat. Es ist alles. Sie ist ein Emotionsverstärker. Sie ist ein Katalysator. Du kannst jegliche Gefühlsebene mit Musik abgreifen oder verstärken. Ob das Freude ist, ein Erregungszustand, Trauer, Wut. Es kann alles potenzieren. Es geht rein und erfüllt dein Herz und ich könnte das fast wie eine Blume beschreiben, die in dir aufgeht. Es hört sich blöd an, ich will das nicht mit einem Orgasmus vergleichen, aber tatsächlich kann Musik auf einer höheren Ebene fast einen ähnlichen Zustand auslösen. So dass du da eintauchen kannst und darin verhaftet bist und dich hingeben kannst. Das hat auch was sehr, finde ich, erotisch ist das falsche Wort, aber es hat so eine Ebene.

Ollie: Es hat etwas Metaphysisches, eine Ebene, die übermenschlich ist. Die sich etwas nach über den Dingen schwebend anfühlt. Wie ein Schaudern, manchmal auch etwas Ehrfürchtiges.

Minu: Ich finde, das erreicht jede Zelle in deinem Körper. Wenn das ein toller Song ist, kann der jede Zelle in deinem Körper erreichen.

 

Delta Komplex - Backstage

Wann habt ihr beschlossen, selbst Musik zu machen?

Ollie: Ganz früh. Und dann hat sich das so durchgezogen, weil es Spaß gemacht hat. Aber es gab Pausen dazwischen. Der Weg zu den Grufti-Sachen hat sich erst entwickelt. Das Düstere und das dunkle Schwere fand ich toll, aber da hat mir das Tanzbare gefehlt. Mir der Funke gefehlt, wo ich dachte, yes, das geht monoton geil mit einem guten Beat durch. Ich mochte das Düstere unbedingt umarmen, aber ich konnte nicht drauf tanzen. Das war so verdammt, ach keine Ahnung. Ich glaube ehrlich gesagt, dass es da irgendwann einen Bruch gab. Oder eine Art Weiterentwicklung. Das waren für mich She Past Away. Das waren die, die auf einmal alle kannten und die einen ganz speziellen Sound hatten. Der zwar wiederum angelehnt war an das, was man von früher kannte. Der Gesang, der ein wenig an die Sisters erinnert. Aber dieses Treibende und dieses total Eingängige. Ich habe das Gefühl gehabt, dass es in kurzer Zeit überall gelaufen ist und hat so das Genre ein wenig umdefiniert. Und auf einmal sind ganz viele Bands gekommen. In dem Moment habe ich mir gedacht, da kommen zwei Sachen zusammen, das will ich machen. Und das hatte ich in der Art vorher gemacht. Das war wie eine Bestätigung. Jetzt mache ich in diesem Genre gezielt Musik.

Minu: Eigentlich erst, als wir als Band zusammengekommen sind, das war 2019. Ich habe vorher gar nichts in der Richtung gemacht. Ich habe gerne Musik gehört, aber es hat sich durch Zufall ergeben, dass ich vielleicht nicht schlecht singen kann.

Ollie: Du hast vorher kleinere Sachen gemacht.

Minu: Für eine Hochzeit sollte jeder aus dem Freundeskreis irgendwas Künstlerisches beisteuern. Da haben mein Lebensgefährte und ich gesagt, wir machen Israel von Siouxsie and the Banshees. Er spielte die Instrumente ein und ich versuchte zu singen. Ich habe vorher noch nie in meinem Leben gesungen und dann haben wir das gemacht und meine ganzen Freunde haben gesagt, Minu, mach doch da mehr draus. Da habe ich spaßeshalber zehn Gesangsstunden genommen, so eine Zehnerkarte, und hatte Spaß dran. Und war frustriert, weil ich nicht mehr draus machen konnte. Und dann haben wir uns zufällig auf einer Party getroffen und Olli hat erzählt, er macht da gerade so ein Musikprojekt und sucht da noch jemanden, der singt und da dachte ich, vielleicht kann ich das versuchen.

Ollie: Dann habe ich dir am nächsten Tag die Instrumentals geschickt. Du hast direkt was darauf aufgenommen und zurückgeschickt.

Minu: Ich habe direkt den ersten Text geschrieben. Das war Bitter Dripping.

Ollie: Das ging ganz schnell. Das war sehr interessant.

Minu: Innerhalb von einem Tag. Ich hatte noch nie einen Text geschrieben. Ich habe die Instrumentals gehört, habe direkt einen Text geschrieben und dachte, was ist da los? Wo kommt das denn auf einmal her? Dann haben wir uns einen Tag später getroffen.

Ollie: Das war unser erster Song.

Minu: Ja, genau. Das war der erste Song.

Ihr teilt euch die Arbeit beim Songwriting?

Ollie: Ja, oft sitze ich allein rum, mache irgendwas und das bringe ich mit. Dann haben wir eine Basis. Manchmal ist es aber so, dass wir hier komplett bei Null anfangen. Minu sitzt meistens hier und dann kommt es pingpongartig. Dann kommen die Worte, dann kommen die Zeilen. Wenn wir das Grundgerüst fertig haben, geht Minu in die Kabine und nimmt den Gesang auf. Dann sitze ich da, mit Kopfhörern und Erbsen.

Minu: Knusper-Erbsen. Ja, das ist das Ritual. Und ich muss mir zwischendurch einen Stock aus dem Arsch ziehen, was das Gesangliche angeht. Manchmal habe ich noch eine Blockade, das so durchzuziehen, wie ich es mir denke. Dann muss ein paar Mal für mich probieren, damit das gesanglich so funktioniert, wie ich es mir vorstelle.

Wie seid ihr auf den Namen Delta Komplex gekommen?

Minu: Tatsächlich sind wir auf Delta Komplex gegangen, weil wir zu dritt waren und wir im Studio immer in einer Dreiecksformation saßen. Das Komplex haben wir genommen, weil wir, wenn wir was gemacht haben, haben wir gesagt, wir machen das ganz einfach, ganz easy und wirklich minimalisiert und letztendlich ist es immer voll das komplexe Ding geworden. Und wir mussten von diesen komplexen Sachen runterschrauben.

Wie schätzt ihr den Einfluss von KI auf die Musikproduktion generell und speziell in Bezug auf eure eigenen Produktionen ein?

Ollie: KI ist in erster Linie ein Tool, das man durchaus nutzen kann. Ich finde, man sollte sich nicht generell dagegen sperren. Jede neue Technik bringt neue Vorteile, neue Facetten mit in den Produktionsprozess. Ich bin skeptisch, was die KI betrifft, und will sie nicht leichtfertig benutzen. KI soll uns helfen, die Sachen, die uns nerven, einfacher zu machen, damit wir mehr Zeit haben für das, was uns Spaß macht. Im kreativen Prozess, besonders bei uns, wo wir uns in einem Underground bewegen, hat es noch viel weniger zu suchen. Ich benutze gar keine KI im Produktionsprozess oder im musikalischen Prozess.

Minu: Wenn Musik oder der Schaffensprozess eine Dose ist und die Dose geht nicht auf, ist die KI manchmal der Dosenöffner, der zwei Wörter ersetzt und dann kommst du an den Inhalt ran. Ich finde, das ist so, wenn man einmal damit anfängt, dann besteht die Gefahr, dass man das zu oft benutzt. Mittlerweile gibt es Musikstücke, die komplett KI gesteuert sind oder Stimmen, die du nicht mehr von menschlichen Stimmen unterscheiden kannst. Das ist gruselig.

Ollie: Und deswegen glaube ich, dass es eine Zurückbewegung zu menschlich gemachten individuellen Erfahrungen und Produkten geben wird.

Wie habt Ihr euren ersten Liveauftritt empfunden?

Ollie: Ich fand den echt gut. Wir hatten da wenig Fehler gemacht, haben viel geprobt vorher. Trotzdem war es aufregend. Klappt alles? Da habe ich sogar noch einen Hardware -Synth dabeigehabt. Den habe ich danach nicht mehr mitgenommen, weil er da eine Macke gekriegt hat. Minu war sehr nervös. Trotzdem hat sie es sehr gut gemacht. Wir haben durchweg gutes Feedback bekommen.

Minu: Ich habe das vorher noch nie gemacht. Ich habe noch nie irgendwo auf einer Bühne gestanden. Kann ich das überhaupt? Will ich das überhaupt? Und der Haufen (ehemaliges drittes Bandmitglied) hat noch zu mir gesagt, ey, mach dir keine Sorgen, du gehst da hoch und da ist so viel Licht, du siehst eh keinen. Das war im Bett in Frankfurt. Und ich gucke runter und es war voll. Und ich sehe jedes einzelne Gesicht in diesem Raum. Und dann dachte ich, okay, jetzt muss ich das irgendwie hinkriegen. Meine größte Angst war, du spielst und alle gehen nach und nach raus. Nach zwei Liedern dachte ich, okay, ist noch keiner gegangen. Nach drei Liedern dachte ich, es ist immer noch keiner gegangen. Und irgendwann dachte ich, es läuft ganz gut. Ich hatte soo Angst, wirklich. Und danach, als ich fertig war, dachte ich, oh geil, das hat Spaß gemacht. Ich habe eine Freundin, die Musik macht. Die hat gesagt, das ist wie ein Orgasmus beim ersten Mal. Pass auf. Das ist geil. Danach willst du wieder auf die Bühne. Danach habe ich gesagt, du hattest recht. Das war echt toll. Ich war noch bei zwei oder drei Konzerten nervös. Und danach habe ich Bock gehabt. In Köln war ich noch sehr nervös, weil meine Familie da war. Da habe ich kurz gedacht, ich sterbe. Ich glaube, da war ich sogar noch nervöser als beim ersten Auftritt.

Delta Komplex

Gab es peinliche oder besondere Erlebnisse bei euren Konzerten?

Minu: Wenn wir auftreten, passiert immer irgendwas. Wenn da mal nichts passieren würde, wäre es kein normales Konzert. Im Nachhinein können wir drüber lachen. Das Peinlichste, was ich gemacht habe, war eine falsche Ansage. Das hat keiner gemerkt. Einmal habe ich Wasser über die Bühne gekippt und meinen kompletten Bewegungsradius eingekesselt. Das Wasser war dann halt da und ich konnte nicht durchlaufen, weil ich Schiss hatte. Wenn ich mein Effektgerät mit dem Fuß bediene, dass ich eventuell einen Stromschlag kriege. Ich bin etwas stromphobisch. Ansonsten haben wir immer Spaß und es ist immer lustig.

Ollie: Mir fällt nichts Peinliches ein. Ich kann nur sagen, dass es schön ist. Es ist cool. Gerade in Köln zum Beispiel. Da waren Leute, die waren bei mehreren Konzerten von uns. Man sieht zwei, drei Leute, die man von anderen Konzerten kennt, die extra vorbeikommen, und das finde ich echt schön. Das ist cool zu sehen, dass es echt Leute gibt, die das erreicht, so dass die sagen, okay, das wollen wir öfter angucken.

Beziehung zu Social Media. Was muss man als Band, um Aufmerksamkeit zu bekommen?

Minu: Das Problem bei Social Media ist, Du musst posten, posten, posten – aber nicht so viel posten, dass die Leute sagen, ach Gott, die schon wieder, die gehen mir voll auf die Eier. Die Waage zu halten zwischen interessant zu bleiben und nicht eine gewisse Langeweile zu erzeugen. Ich glaube, es ist superschwierig, eine gewisse Balance zu finden und vor allen Dingen, nicht überheblich zu wirken.

Wann dürfen wir mit dem neuen Album rechnen?

Minu: Das ist eine gute Frage. Wir wissen es nicht. Unsere Zeitlimits funktionieren nicht. Wir haben unser Leben und da kommt immer was dazwischen. Musik ist die schönste Nebensache der Welt und wir wollen uns da nicht mehr stressen. Was nicht leicht ist, wir wollen beide, dass es fertig wird.

Ollie: Am Anfang war es wirklich Hobby – Magie. Durch mehr Auftritte und mehr Organisation wird tatsächlich alles etwas stressiger. Das ist eben diese typische Gratwanderung, die viele durchmachen. Am Anfang sind wir in den Proberaum gekommen und konnten Musik machen. Jetzt kommen wir her und machen Grafik, Social Media, T-Shirt Design, etc. Das macht alles Spaß, Aber es gibt etwas, das mit der Musik konkurriert, wofür man sich extra Raum schaffen muss. Neben dem Leben und Arbeit wird es schwieriger, noch mehr Platz zu schaffen. Und deswegen können wir nicht sagen, wann das Album kommt. Es gibt aber bereits einige Lieder.

Möchtet ihr den Lesern noch etwas mitteilen?

Minu: Ich bin die Labertasche hier. Genau. Geht auf Konzerte und fördert die Subkultur. Fördert kleine Bands. Wir sind alle Nutzer von Spotify, aber dadurch wird das Zwischenmenschliche nicht ersetzt. Wir freuen uns über die Gespräche nach den Konzerten oder darauf, die Emotionen von den Leuten aufzufangen. Wenn die Leute danach kommen und sagen, es war wunderschön und ihr habt da in mir was bewegt. Das ist das schönste Kompliment, das man mitnehmen kann. Und das geht nur live.

Delta Komplex

Wer mehr über die Band Delta Komplex erfahren möchte, wird möglicherweise hier fündig:

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1998 in die Szene eingestiegen. Die folgenden Jahre habe ich intensiv Veranstaltungen und Konzerte besucht. Von 2009 bis 2013 beschränkte ich mich dann auf Musik, bevor ich dann wieder aktiver wurde. 2017 habe ich eine Familie gegründet - keine Musik, keine Veranstaltungen, keine Konzerte, keine Festivals, keine eigenen Gedanken. Jetzt kehre ich endlich wieder zurück vor die Bühne.

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Victor von Void
Victor von Void(@vivovo)
Vor 1 Tag

Wir haben lange in Darmstadt gelebt und so natürlich auch Delta Komplex live gesehen. Ich kann jedem nur raten, sie sich anzuschauen, wenn sich die Gelegenheit ergibt! Ganz große Empfehlung!

Letzte Bearbeitung Vor 1 Tag von Victor von Void
Marquis
Marquis(@marquis)
Vor 1 Tag

Ich durfte Delta Complex auf dem vorletzen Owls n‘ Bats am Hermannsdenkmal erleben und höre sie seitdem sehr gerne und oft.
Rythmischer Cold Wave vom feinsten, kühl, eingängig und tanzbar, mit einer sehr symathischen Sängerin.
Ganz große Empfehlung, kann ich Victror von Void nur beipflichten!

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Vor 1 Tag

Sehr sympatisches Interview einer Band, die ich bisher nur namentlich kannte (was ich aber nun ändern werde)!
Besonders was sie zur Wirkung von Musik auf Körper und Psyche sagen, finde ich sehr gut in Worte gefasst. Und wie Minu ihr Lampenfieber bei den ersten Auftritten beschreibt und wie bedeutsam ihr das Zusammenspiel zwischen Publikum und Band ist. Auf jeden Fall keine Band, die sich hinter pseudocoolen, aufgesetzten Phrasen versteckt, sondern eine die authentisch und sympatisch wirkt.

Letzte Bearbeitung Vor 1 Tag von Tanzfledermaus
Maren
Maren(@milk)
Antwort an  Tanzfledermaus
Vor 1 Tag

Da möchte ich mich mich einfach @Tanzfledermaus anschließen. Genau aus den gleichen Gründen gefällt mir das Interview auch sehr gut. Interessant auch die Ausführungen der beiden zu Social Media, Entwicklungen in der Szene und KI. Sehr eindringlich empfinde ich Minus Appell am Schluss: „Geht auf Konzerte und fördert die Subkultur.“ Ja, ich stimme ihr zu, Musik live zu erleben kann nicht ersetzt werden.

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Vor 3 Stunden

Ach, schade, wollte mir gerade das Album auf CD bestellen – aber es gibt nur digitalen Download oder Vinyl… Bei dem Trend zu Vinyl wird leider immer wieder veregssen, dass es Leute gibt, die CDs bevorzugen. Vinyl ist für mich keine Option.

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Antwort an  Marc
Vor 3 Stunden

Danke, dort hatte ich auch schon geschaut, da steht aber auch nur Vinyl und Download zur Verfügung… Wenn es tatsächlich ne CD Version geben sollte, such ich mal weiter nach ner Quelle!

Edit: scheint tatsächlich keine CDs (mehr) zu geben :-(

Letzte Bearbeitung Vor 3 Stunden von Tanzfledermaus
Minu Samimi
Minu Samimi (@guest_66337)
Antwort an  Tanzfledermaus
Vor 3 Stunden

Hallo Tanzfledermaus!
Eigentlich sollten noch genügend CDs da sein:-) da ist was bei BC schief gelaufen. Schreib mich gern über Fb oder Insta an:-) das bekommen wir hin.
LG Minu
Delta Komplex

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Antwort an  Minu Samimi
Vor 2 Stunden

Hey Minu, vielen lieben Dank, aber ich bin weder bei FB noch Instagram. Ich versuchs mal über den Kontakt zu Unterschall auf Bandcamp, Euch ne Nachricht zu schicken (mal schauen ob das klappt)!
Liebe Grüße
Caro

Letzte Bearbeitung Vor 2 Stunden von Tanzfledermaus

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