Die russische Band IC3PEAK bombardiert die Gehörgänge der russischen Jugend mit elektronisch-experimenteller Musik, beeindruckt die Augen mit großartiger Performance-Kunst und gräbt sich mit einem inhaltlichem Pranger in die Gehirnwindungen der Zuhörer. Wenn man dann Russisch versteht (den Übersetzer einschaltet) und sich für Russland interessiert. Hämmernden Beats, die durch elektronische Störgeräusche ins Extreme getragen werden, opernhafte Gesangseinlagen, die einen Augenblick später in gesellschaftskritischem Rap münden, formen eine experimentelle Klangcollage, die immer ein bisschen mehr am Lautsprecher fesselt, als dass sie abschreckt.
Die Band ist ein „audiovisueller“ Vorreiter für eine emanzipierte russische Jugend, die mit Traditionen, Familienbildern und einem schwierigen politischen System bricht und nach echter Freiheit und Selbstbestimmung strebt. IC3SPEAK solidarisieren sich mit den Protesten in Belarus, kommentieren Präsident Putins Reform, die ihm weitreichende Vollmachten zusichert, musikalisch bissig und verurteilen gesellschaftlich Missstände scharf. Da ich ihr Gesamtkonzept beeindruckend finde, nehme ich mir die Freiheit heraus, Euch die Band und einige ihrer Videos vorzustellen.
In dem Video „Плак-Плак (Weine-Weine)“ thematisiert die Band das Patriarchat in der russischen Gesellschaft, in der auch häusliche Gewalt zu Tagesordnung zu gehören scheint. Ein Gesetzentwurf, der diese Probleme angeht, wurde im Parlament bereits mehrfach abgelehnt. In dem Video spielt das Mädchen mit einem Puppenhaus, in dem eine animierte Form der Bandmitglieder Anastasia Kreslina und Nikolay Kostylev als Ehepaar zum Leben erwacht. Im Text heißt es: „Mama sagt zu mir immer: Hör auf deinen Mann. Ich gehorche nicht, mache alles nur schlimmer.“ Vater und Mutter streiten und bedrohen sich, bis sie ihn mit einem Küchenmesser erdolcht. Nachdem sie die Puppenstube von weißem Blut ihres Mannes gesäubert hat, verabschiedet sie sich von ihm: „Ich würde dich gerne umarmen, wie damals. Aber dazu muss ich deinen Körper ausgraben. Deine Knochen aus Eis liegen irgendwo da unten. Die Blüten sprießen aus dem mit Tränen überfluteten Boden.“
Ursprünglich schreiben IC3PEAK, das man wohl als „Augen sprechen“ deuten könnte, ihre Texte in englischer Sprache und sind eher im Bereich EDM oder Witch House verankert. Sie wollen mit Stücken wie „This World is Sick“ ein breites Publikum erreichen und bauen sie einen sprachlichen Freiraum, in dem sie kritische Themen ansprechen können, die in Russisch möglicherweise zu provokant wären.
Eine Tournee durch die Vereinigten Staaten ändert ihre Sichtweise, wie sie dem Vlogger Juri Dud in einem Interview erzählen, „denn dort seien die Menschen geradezu fixiert auf ihrer Identität und ihre Wurzeln“ und das habe sie zum Nachdenken gebracht. „Warum machen wir das nicht selbst?“ Sie löschen die Distanz zwischen sich und dem gleichaltrigen Publikum und singen seit ihrem 2018 erschienen Album „Сказка (Märchen)“ in ihrer Muttersprache.
Sie wollen nicht mehr gefallen, jedenfalls nicht allen. Sie möchten ausdrücken, was sie fühlen und das ist im Grunde genommen sehr gruftig. Im Stück „Грустная Сука (Traurige Schlampe) heißt es beispielsweise: „Bekreuzige dich jedes Mal, wenn du mich siehst. Ich störe deine Überzeugungen. Ich ruiniere deinen Tag mit meinem toten blassen Gesicht. Ich kümmere mich nicht um deine Empörung.“
Das politische Klima ihres Landes fassen sie in ihrem Song „Marsch“ zusammen, mit dem sie Präsident Putin nicht nur karikieren, sondern auch seine jüngsten Reformen, die ihm noch weitreichendere Befugnisse einräumt, bissig kommentieren. Der Song spiegelt ein bizarres Bild von einer Kindheit, die abrupt endet, wenn die erwachsen gewordenen Kinder Waffen in die Hand bekommen und spielerisch lernen, ihre Feinde zu eliminieren. Der Rest spiegelt möglicherweise den Werdegang in der russischen Gesellschaft, der stets mit Gewalt und Krieg zu enden scheint.
Seit ein gewisser Gorbatschow 1985 die Sowjetunion reformierte und die UdSSR am 31. Dezember 1991 zerfiel, ist nicht allzu viel passiert. Viele Städte verharren seit 30 Jahren in einer Schockstarre und ertragen den fortschreitenden Verfall mit ihrem grauen, eingefallenen Gesicht. Oligarchen, Kriminalität, Energie-Milliardäre und territoriale Machtspiele verleihen dem riesigen Land einen zweifelhaften Ruf. Während sich einige wenige in Luxus suhlen, sieht sich vor allem die Jugend von der „grauen Tristesse“ erdrückt und von fragwürdigen politischen Strukturen ausgegrenzt. Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit lassen die Botschaften der Band IC3PEAK zu wichtigen Träumen heranreifen, viele – gerade junge Leute – begehren immer lauter auf.
Die russische Führung reagiert und stufte die Band als „sozial gefährlich“ ein, was immer wieder zu Auftrittsverboten im eigenen Land geführt hat. Sie suchen den Weg in die Öffentlichkeit, um – so erklären sie in einem Interview – in deren Schutz ihre Konzerte zu spielen. Man solle aber nicht erwarten, dass sie sich politisieren würden. Für sie steht ihre Kunst und die Musik im Vordergrund.
Was in Russland alles falsch läuft, bringen IC3PEAK in ihrem beliebtesten Stück „Смерти Больше Нет (Es gibt keinen Tod mehr)“ auf den Punkt. Natürlich in einer bedeutungsschwangeren Form. Vor dem Regierungsgebäude – dem weißen Haus – übergießt sich Nastya mit Kerosin, vor Lenins Mausoleum essen die beiden Künstler rohes Fleisch und vor der weltberühmten Basilius-Kathedrale zeigen sie einen tödlichen Zaubertrick. „Ich spüle meine Augen mit Kerosin, lass alles brennen, lass alles brennen“ Es schwebt eine Form der Todessehnsucht mit, die dem Lebensgefühl vieler junger Menschen in Russland am nächsten kommt. „Mich erwartet nichts in der Zukunft“
Trotzdem bleiben wir neugierig, was uns noch in der Zukunft erwartet und wie russische Reformen sich in Künstlern wie IC3PEAK manifestieren. Ich habe mich sehr über diesen Einblick in die Denkweise junger russischer Musiker gefreut, da sich dann das, was hierzulande beim Thema Russland in den Köpfen vorgeht, ein wenig ausdifferenziert. Dazu diese unglaublich ausgefeilten Musikvideos und begleitet von einem Sound, der viel Spannung erzeugt und den angesprochenen Inhalt knisternd auflädt.
IC3PEAK findet ihr unter anderem bei Youtube oder vielen Streamingdiensten und natürlich auch bei Facebook. 2022 wollen sie mit ihrer „Horror Show“ auf Tour gehen. Am 5. Mai wollen sie in Berlin spielen, am 6. Mai in Leipzig und am 16. Mai in Köln.
Wizard of Goth – sanft, diplomatisch, optimistisch! Der perfekte Moderator. Außerdem großer “Depeche Mode”-Fan und überzeugter Pikes-Träger. Beschäftigt sich eigentlich mit allen Facetten der schwarzen Szene, mögen sie auch noch so absurd erscheinen. Er interessiert sich für allen Formen von Jugend- und Subkultur. Heiße Eisen sind seine Leidenschaft und als Ideen-Finder hat er immer neue Sachen im Kopf.
So muss Kunst sein! Leider nicht meine Musik, aber ich habe größten Respekt vor dieser Band. Endlich mal nicht nur dämliches Dunkel-Gepose! Eigener Stil, tolle Videos, echte Inhalte 🖤
Das sehe ich genauso. Finde das gesamte Konzept der Band sehr gelungen. Die Stimme und der Gesangsstil erinnern mich etwas an die Antwoord, da hab ich mich mal dran überhört, deshalb spricht es mich musikalisch nicht mehr so an. Aber sonst richtig gut!
Die Formulierung „Leider nicht meine Musik, …. “ will ich so irgendwie nicht unterschreiben. Übermäßig schlimm finde ich es nicht. Es muss ja nicht alles 80er-Epigonentum, True-Goth Rock, etc. sein. Ich finde die Gruppe steht sicherlich für ein interessantes Russland.
Leider das was demnächst eine neue Modewelle innerhalb von Goth wird. Und schon fühlen sich einige Hiphoper und Rapper berufen sich Goth zu nennen. Nun ist Weedwave kein neues Phänomen in Russland.
Künstlerisch finde ich sie toll, auch was die Kritik an der russischen Gesellschaft angeht. „Mit goldenen Ketten versinke ich im Sumpf“ „Du wirst mit den anderen am Platz geschnappt und ich schnappe mir einen neuen Wohnraum.“
Von daher finde ich sie echt klasse.
Falls jemand russische Artikel übersetzen möchte, bietet sich dafür Yandex an. Ich habe es nur mal kurz getestet und war recht begeistert. Man muss allerdings dann den Weg über Englisch in Kauf nehmen.
Es tut immer wieder gut zu sehen, daß es in Russland doch noch Opposition und Kontroverse zu geben scheint. Veränderung – und die scheint im Osten bitter nötig – kann nur aus der Gesellschaft selbst kommen, Kunst, Kultur, Medien sind ihre Waffen.