Jung fühlte ich mich am Sonntagmorgen überhaupt nicht mehr und von „kalt“ kann auch keine Rede sein. Ziel verfehlt? Eins nach dem anderen. Der persönliche Auftakt zum ersten Young & Cold Festival in Augsburg war alles andere als reibungslos. Die kleinen Symbole auf dem Navigationssystem hätten mich stutzig machen sollen. Das konnten doch nicht alles Baustellen auf dem Weg nach Augsburg sein! So begann meine Reise um 11:00 in Mönchengladbach und endete 7,5 Stunden später unweit des Augsburger Doms. Was für eine Tortur. In meinem bei airbnb gebuchten Zimmer hatte ich noch kurz Zeit, einen Kaffee zu trinken, mit den Gastgebern zu sprechen und mich für das anstehende Abendprogramm frisch zu machen. Mitten in einem Augsburger Industriegebiet liegt die Ballonfabrik, in der tatsächlich einmal Ballone gefertigt wurden, bevor sie 2010 als Kulturzentrum reanimiert wurde. Auguste Piccard, so verrät mir Wikipedia, startete von hier am 27. Mai 1931 einen Stratosphärenballon, der die Weltrekordhöhe von 15.785 Metern erreicht.
82 Jahre später versammeln sich vor dem Gebäude merkwürdige Gestalten, die vom Lichterschein eines brennenden Fasses in eine schaurig undergroundige Atmosphäre getaucht werden. Jawohl, hier bin ich richtig. Ich werde freundlich von Marcel begrüßt, den ich vom Interview zum Festival kannte, bekomme ein Bändchen, einen hübschen Button in Fledermausform und einige Flyer in die Hand gedrückt. Weiter geht`s. Innen ist die Ballonfabrik überschaubar, eine kleine Bühne, eine Bar und ein paar Sitzgelegenheiten machen einen durchaus passenden Eindruck. Reichlich Schwarzlicht verzeiht keine Schuppen, lediglich der obligatorische Nebel, in dem Grufties bekanntlich am liebsten tanzen, fehlt. Das ist, so erfahre ich später, ein Tribut an die Sicherheit. Nebelmaschinen bleiben für das Wochenende tabu. Vielleicht aber auch gar nicht schlecht, denn so genieße ich gleich die klare Sicht auf die erste Band des Abends, The Moonlets.
Ich spare mir Einordnungsversuche und komme zum Wesentlichen. Obwohl die Band mit Barbara am Schlagzeug und Kris an der Gitarre und am Mikrophon etwas unfertig wirkt, ist es erstaunlich, welches Flair die zwei mit ihrer Performance versprühen. Die durch zahlreiche Effektgeräte verzerrte Gitarre erinnert gelegentlich an Joy Division und auch vom Stil her lassen sich Verwandschaften entdecken. Der Sound wirkt rau und ungeschliffen, kantig und doch eingängig. Vermutlich ist es die Introvertiertheit der Protagonisten, die das Publikum trotz Aufforderung davon abhält, sich zu bewegen, vielleicht aber auch, weil es die erste Band immer schwerer hat gegen die anfängliche Steifheit anzukämpfen. Anspieltipp: Assassins on the Sidewalk
Während die Helfer ein mit Elektronik vollbepacktes Brett auf die Bühne tragen, wird es lockerer und etwas voller in der Ballonfabrik. Offensichtlich hat die Ein-Mann-Band Paradox Sequenz gleich einen eigenen Fanclub mitgebracht. Nicht weiter verwunderlich, denn Fantasi Wagner, der „Ein-Mann“ hinter der Band, bedient auch bei der Band „Nachtanalyse“ die Regler und ist zudem noch ein fester Bestandteil der Augsburg-Connection (dazu später mehr). Schon mit den ersten Tönen ist klar, dass hier ein Waver mit Herzblut bei der Sache ist. Es ist sowieso sehr erstaunlich, wie der anfangs nervöse Fantasi mit seiner Musik an Selbstsicherheit gewinnt und schon nach dem ersten Song auftaut wie ein Eiswürfel im Kaffee. Virtuos bedient er die unzähligen Regler, singt ins Mikrophon und bewegt sich zu seinem Minimalwave. Eine großartige Ausstrahlung. Das Publikum folgt der Energie auf der Bühne und tanzt zu Stücken wie dem Anspieltipp: Digitale Astronauten.
Mit der Band Tiefenstadt ändert sich das musikalische Klima schlagartig. Die Zuhörer werden durch Gitarre, Bass, Schlagzeug und Keyboard und von einem tiefen Gesang in das Genre „Goth Rock“ entführt. Martin Harlov, Robert Tale, Robert Herold und Michael Schlössinger nehmen die Zuhörer nahtlos vom Wave zum Gothic mit und können mit solidem Handwerk mehr als überzeugen. Hier beherrscht jeder sein Instrument, ohne sich diesem selbstverliebt hinzugeben. Das die punkige Attitüde ein wenig verloren geht, ist eine willkommene Abwechslung und sorgt für einen Publikumswechsel vor der Bühne. Objektiv eine Bereicherung für das Festival und seine Bandbreite. Ich persönlich befinde mich aber in einer anderen Stimmung und suche nach ein paar Songs das Gespräch mit einige angereisten Freunden außerhalb der Ballonfabrik. Anpsieltipp: Menschlichkeit
Pünktlich zum Auftritt von Eycromon finde ich mich wieder vor der Bühne ein, zugegebenermaßen, weil es mir auch wegen zu luftiger Kleidung ein wenig fröstelt. Die sechs-köpfige Band füllt die Bühne vollständig aus und präsentiert sich äußerst professionell. Die Songs des Sets sitzen perfekt und die musikalische Mischung aus Synth-Pop, Elektro und Rock vermittelt Eingängigkeit. Hier stimmt jede Bewegung, diese Band ist bereit für größere Bühnen!
Ich bin positiv überrascht, dass sie das Young & Cold Festival mit ihrem Auftritt erweitern und so das musikalische Spektrum ausdehnen. Für mich wirkt das Ganze etwas zu perfekt, die Band vermittelt wenig Spielfreude und Natürlichkeit. Für mich ist die Musik zu Schlager-lastig, wirkt austauschbar und aufgesetzt. Ich würde mir wünschen, dass man sich weniger am Mainstream orientiert, sondern einen eigenen Stil zum Individualismus entwickelt. Anspieltipp: Spiel mit mir
Der Freitag geht nahtlos in eine Tanznacht über. Ich unterhalte mich noch blendend mit Katharina und Parm vom Schemenkabinett und folge meinem Bewegungsdrang, um bei einigen Songs noch meine letzte Energie zu verschleudern. Ein Song, den ich währenddessen höre, bleibt mir in Erinnerung: „Scan mich ein“. Ich nehme mir fest vor herauszufinden, von wem der ist.
Zunächst fordern aber 7 Stunden Autobahn-Stress ihren Tribut, Müdigkeit übermannt mich und ich streiche die Segel und lasse mich totmüde ins Bett fallen. Morgen locken Augsburg mit eine Sightseeing-Tour und natürlich eine lange musikalische Nacht mit dem zweiten Tag des Young & Cold Festivals 2013, der diesmal schon um 17:00 beginnt.
Samstag
Ich komme natürlich viel zu spät, weil mich meine Friedhofstour in einem Teil von Augsburg zurückgelassen hat, den ich ohne Navi offensichtlich nicht verlassen kann. Letzteres hat natürlich seinen Geist aufgegeben, mit anderen Worten: Es will nicht mehr. Erst nach zahlreichen Flüchen, einem Neustart per Akku-Entfernung und dem Befahren einer Bus-Spur ließ sich das Gerät davon überzeugen, mich an den richtigen Ort – oder besser auf den rechten Pfad zu führen, denn in der Umgebung der Ballonfabrik kannte ich mich ja schon ein bisschen aus. Glücklicherweise verzögerte sich auch der Auftritt von Corps Noir, so dass ich noch in den Genuss einiger Lieder kam.
Spährisch – ein Wort, das mich den ganzen Auftritt lang begleitet, denn man tauscht wavige Rythmus-Orgien gegen schwere Synthie-Teppiche. Wenn man sich darauf einlässt, werden daraus fliegende Teppiche und das wohlige undergroundige Gefühl, das am Vorabend durch die Moonlets eröffnet wurde, stellt sich wieder ein und sollte mich den ganzen Abend nicht mehr verlassen. Charles, Dav und Phil sind mittlerweile schon auf alle Underground-Festivals aufgetreten, darunter auch auf dem „Gothic Pogo Festival“ in Leipzig und dem „Drop Dead Festival“ in Berlin und haben sich dabei in die Herzen der Zuhörer gespielt. Anspieltipp: Loneliness
Eine Überraschung war dann die Band MassendefeCt, in mehrfacher Hinsicht. Zum einen die „ausgefeilte“ Bühnentechnik, bei der auch später ein guter alter Gameboy den Ton angab, sondern vor allem diese unglaubliche Spielfreude, die der Sänger der Band vermittelte und die durch die Perfomance des „Soundgespanns“ nur noch abgerundet wurde. Ich meine, da kommt dieser mitt-dreißiger Brillenträger mit 3-Tage-Bart auf die Bühne, dem ich bei einer flüchtigen Begegnung nicht zugetraut hätte, „cool“ zu sein und macht MassendefeCt zu einem der spielfreudigsten Auftritte des Abends. Flankiert durch die diabolisch lächelnde „Pause-Taste“ und einem kühl professionellen „Vorspul-Taste“ entwickelte sich die Band schnell zu eine Überraschung. Der Sound im minimalwavigen 8bit-Gewand kommt demnach so erfrischend Retro rüber, dass es einfach ansteckt und man einem gewissen Bewegungsdrang nachgeben muss. Anspieltipp: Plastik
Die zweite Überraschung folgte gleich im Anschluss, denn mit NachtAnalyse wurde das Geheimnis des Vorabends gelüftet. „Scan mich ein“, das mir DJane Sheatle am Vorabend zum tanzen servierte, stammt nämlich von NachtAnalyse und bewegten mich in der Live-Version erneut. Und da hätten wir sie wieder, ein Teil der Augsburg-Connection. „Babsi per Du“ am Mirkrophon, „Daniel Düseltrieb“ und „Fantasi Wagner“ an den elektronischen Geräten. Die haben nicht nur beim Young & Cold Festival ihre Finger im Spiel, wie ich in einem Artikel bereits erwähnt habe, sondern sind auch Teil einer rund 30 Personen starken Augsburg-Connection, wie mir der „Kopf“ Marcel bei einem Lagerfeuer-Gespräch erzählte. Irgendwie faszinierend, wie viel kreative und organisatorische Energie dieser Freundeskreis hat. Ich habe ihn kurzerhand „Augsburg-Connection“ getauft, weil auch die regelmäßig stattfindenden Deca Dance Partys in der Augsburger Ballonfabrik stattfinden.
Zurück zu NachtAnalyse. Die Band vereinigt 3 talentiert Individuen zu einem delikaten Stücke Wave, das die 80er ohne Pause in die Neuzeit überführt und den Wave mit Sahne und Kirsche garniert. Der Gesang ist ausgezeichnet, die Musik ist eingehend-tanzbeinaktivierend und auch die Texte sind trotz ihrer Einfachheit hintergründig komplex. Doch was es ausmacht, ist diese Punk-Attitüde, dieses Selbermachen-Gen, diese Natürlichkeit. Der Auftritt war mit einigen technischen Patzern garniert, die meinen Eindruck nur noch bekräftigten, am richtigen Ort der passenden Band zu lauschen.
Stichwort Punk-Attitüde. Bloodygrave aus Berlin sieht nicht nur aus wie ein Punk und benimmt sich wie einer, seine Musik ist ebenfalls Punk. Elektro-Punk. Nie habe ich jemand mit einem größeren Dachschaden auf der Bühne stehen sehen und nie einen charmanteren. Während die Energie vorangegangener Auftritte langsam ins Publikum kippte, schüttete Ben von Bloodygrave das Ganze Eimerweise in die Menge. So dauerte es auch nicht lange, bis sich das Publikum anstecken ließ und wild bis ausgelassen tanzte, während Ben auf der Bühne mit der Technik und seinem Ego kämpfte. Als besonderen Bonus habe ich in seinem YouTube Channel auch noch ein Video gefunden, das das Festival nochmal aus seiner Sicht Revue passieren lässt und am Ende auch einige Auftritte einfängt. Anspieltipp: Minimal
Zeit, die erhitzten Gemüter abzukühlen. Wie gut, dass die „Kinder aus Asbest“ die Bühne für sich beanspruchen. Der sympathische und introvertierte Schwede erinnert mich – und das liegt nicht an seinem Joy Division T-Shirt – an Ian Curtis, wie er da so völlig verloren hinter seinem Synthesizer steht und die Klangteppiche produziert, die bei manchen Besucher die Augen schließen und den Körper in sanfte Wellenbewegungen versetzt. Es ist Musik, um sich darauf einzulassen, nicht um sie lapidar beim Staubsaugen zu hören. Ich glaube, wenn man nach einer Quersumme aus allen Musikstilen und Strömungen der schwarzen Szene sucht, sollte man sich mal schwedisch einkuscheln und den Oldschool-Minimalsynthwave auf sich wirken lassen. Übrigens hat er das gesamte Set auf dem Young & Cold Festival zum kostenlosen (oder für eine Spende) Download zur Verfügung gestellt. Man kann beim Hören wohl am besten nachvollziehen, was ich meine. Anspieltipp: The Young & Cold Tracks
Nun ist die Ballonfabrik randvoll, als Larissa Iceglass und William Maybelline die Bühne betreten und mit Lebanon Hanover den ersten Headliner des Festivals markieren. Ich mag zwar keine Genre-Reiterei, doch wenn ich Cold Wave irgendwie in Szene setzen müsste, dann so. Schon mit den ersten Klängen und vor allem mit ihrem unterkühlten und doch visuell starken Auftritt fangen die Beiden ihr Publikum ein. Ihre Gesichtszüge lassen dabei nicht erkennen, ob sie sich gerade freuen, traurig sind oder sich langweilen. Irgendwie gruftig. Es rundet die Sache nur noch ab, dass ich sehe und erfahre, dass die Beiden auch im privaten Leben ein Paar sind. Wusste ich noch nicht und es ist irgendwie wunderschön anzusehen, wie sie ihr Leben in solch einer kreativen Zweisamkeit verbringen. Aber durchaus auch anstrengend. Leider hat der Sound nicht mehr so wirklich mitgespielt und so sorgten ein paar unangenehme Rückkopplungen für gelegentliche störende Effekte, die am positven Gesamteindruck jedoch nichts änderten. Tolle Band, tolle Musik. Anspieltipp: Gallowdance
Noch Bevor Velvet Condom den Abend abschließen, betritt das Organisations-Team des Young & Cold Festivals die Bühne, um sich vorzustellen, das nächste Jahr anzukündigen und um einfach nur sympathisch zu sein. Denn das sind sie. Selten haben sich Veranstalter so engagiert und offen gegeben wie hier und haben allen Widrigkeiten zum Trotz ein tolles Festival auf die Beine gestellt. Dass der Essensstand nicht auftauchte, weil er Besseres vorhatte und nicht vertraglich gebunden war, sorgte außer für gelegentlich knurrende Mägen für nichts weiter. Keine bösen Stimmen, keine enttäuschten Gesichter und kein Gemecker. Die Getränkeversorgung blieb gesichert und ein lokaler Pizzadienst freute sich über die spontanen Mehr-Einnahmen.
Bei den vielen und guten Gesprächen am Rande des Festivals waren wir uns einig, dass es ohne Headliner wie Lebanon Hanover und Velvet Condom schwer geworden wäre, Publikum außerhalb der „Augsburg-Connection“ anzusprechen. Und Velvet Condom bewiesen – genau wie Lebanon Hanover -warum das so ist. Die Franzosen bilden die neue Speerspitze der aktuellen Wave-Bewegung. Treffenderweise möchte ich ihre eigene Einschätzung von ihrer Internetseite aber den Vorzug lassen: „They consider their music as dirty-pop or weird-wave played by dead mannequins. As if Synth PoP would meet dark noisy guitars and teenage angst lyrics.“ Die Band ist visuell unspektakulär, dafür handwerklich solide und interpretationsfähig. So machten die ersten vertrauten Klänge aus dem sowieso gut gelaunten Publikum einen Hexenkessel. Auf Schminke und Hairstyling achtete nun niemand mehr. Schnell zeigte die Band, warum sie Headliner ist. Ihre Musik ist abwechslungs- und facettenreich und wechselte zwischen Tanzbarkeit und melancholischem Dahinschweben. Ein würdiger Abschluss! Anspieltipp: Samt und Stein
Mehr über das Young & Cold Festival?
Auf der Facebook-Seite des Festivals werdet Ihr auf dem Laufenden gehalten, was das 2. Young & Cold Festival in Augsburg anbelangt. Diesmal soll es an zwei Standorten stattfinden und es werden mehr Karten verfügbar sein. Die tollen Bilder zu diesem Artikel wurden netterweise von Ray Montag von Gothsick unter eine CC-Lizenz gestellt, so dass ich sie hier veröffentlichen kann. In seiner Galerie finden sich unzählige Schnappschüsse von vielen Besuchern! Vielen Dank auf für den Schnappschuss mit Katharina und Parm vom Schemenkabinett.
Ich war zwar nicht dabei und es ist auch schon vier Jahre her. Aber heute habe ich hier Mal in Roberts Bericht gelesen und einige Bands angehört.Sehr inspirierend, Danke!