Mal über den Tellerrand blicken, mal etwas Neues ausprobieren – das waren ehrlich gesagt nicht die Gründe, in diesem Februar zum ersten Mal das Grauzone-Festival im niederländischen Den Haag zu besuchen. Der Grund lautete schlicht und einfach: Xmal Deutschland. Dass diese Kultband, genauer: Frontfrau Anja Huwe, im vergangenen Jahr nach mehr als 30 Jahren Funkstille ein neues Album veröffentlicht hat, war bereits eine fette Überraschung. Dass Xmal Deutschland aber plötzlich im Line up des Grauzone-Festivals auftauchten und Nachgeborene somit die Chance erhielten, all die großen Hits der Band doch einmal live zu erleben, das kam schon einer kleinen Sensation gleich. Also fix Tickets gebucht und ab nach Den Haag.
Anders als der Name der Veranstaltung vermuten lässt, war das Grauzone-Festival ein echter Lichtblick im grauen Winter. Und so viel sei an dieser Stelle bereits verraten: Auch ohne Xmal Deutschland hätte sich der Trip in die drittgrößte Stadt der Niederlande gelohnt. Weil Den Haag seinen Besuchern allerhand zu bieten hat. Und weil die Grauzone-Organisatoren ein liebevoll kuratiertes Programm auf die Beine gestellt hatten, das neben viel innovativer Musik auch Kunst, Filme, wilde Partys und sogar eine Sporteinheit namens Graurobics beinhaltete.
Mehr als 70 Formationen standen am Ende auf dem Grauzone-Plakat. Darunter musikalische Perlen wie die US-amerikanische Elektro-Sirene Zola Jesus und das kanadische Dark-Dance-Projekt TR/ST. Dabei spannten die Festival-Macher einen sehr weiten Bogen vom Post-Punk der 80er Jahre bis hin zu den Einflüssen dieses Genres im Hier und Heute. Dazu gehören nach Ansicht der Organisatoren Neo-Gothic-Bands wie Selofan genauso wie die Punk-Rocker von Chalk oder Techno-DJs wie Chloe Lula.
Also auf ins Getümmel! Ich tausche zusammen mit meiner Begleitung die Eintrittskarte gegen das obligatorische Bändchen, das den Eintritt in alle Veranstaltungen garantiert. Die Locations liegen praktischerweise alle nur wenige Gehminuten voneinander entfernt im Zentrum von Den Haag. Wir stehen im Foyer der größten Festival-Location und schauen uns um. Dass so etwas wie Hipster-Goth existiert, ahnte man ja bereits, in Den Haag wird aus dieser Ahnung Gewissheit. So viele Menschen mit Jutebeutel und Vokuhila-Frisur sieht man sonst höchstens in Berlin-Kreuzberg. Eine Bekannte stellt fest: „Ganz sicher arbeiten viele, die hier an ihrem veganen Burger mümmeln, unter der Woche in einer Kunstgalerie oder studieren irgendwas mit Medien.“ Könnte hinkommen.
Weil beim Grauzone-Festival immer mehrere Bands parallel spielen, müssen wir uns entscheiden und stehen schließlich vor der Hauptbühne, auf der die Post-Punk-Rocker von Actors einen wirklich gelungenen Auftritt hinlegen. Danach zieht Zola Jesus gegen Chloe Lula den Kürzeren. Chloe Lula ist eigentlich DJane und wird zu späterer Stunde noch auflegen.
Vorher spielt sie in einer Kirche Cello, das sie mit elektronischen Effekten garniert. Das muss man mal gesehen haben, denken wir – und wir werden nicht enttäuscht. Chloe Lula zelebriert vor sakraler Kulisse Dark Ambient vom Feinsten. Das Publikum erhebt sich nach knapp einer Stunde ergriffen von seinen Klappstühlen, die ebenso wie die Yucca-Palmen im Altarrau, ein ganz klein bisschen das Gesamtbild stören.
Später lernen wir eine ganz andere Chloe Lula kennen. Nachdem die Konzerte vorbei sind, legt die Berlinerin düsteren Techno in der Main Hall auf. Wo eben noch Actors hinter ihren Mikros standen, rekeln sich jetzt leicht bekleidete Gogo-Dancer. Spätestens als ein Typ im Leder-Harness neben mir tanzt, steht fest: Das hier ist gerade mehr Berghain als Batcave.
Grauzone Tag 2 – Xmal Deutschland in Würde zurück auf der Bühne
Wenige Stunden Schlaf, drei Tassen Kaffee und eine Aspirin später erobern wir Den Haag. Eine schöne Stadt, die im Gegensatz zu Amsterdam nicht so heftig von Touristen überlaufen ist. Den Haag hat den Friedenspalast, einen Stadtstrand mit Riesenrad und zwei Museen, die man besucht haben sollte. Das Escher-Museum und das Mauritshuis, in dem sich Vermeers berühmtes Gemälde „Mädchen mit den Perlenohringen“ befindet. Wir schaffen es nur zum Riesenrad und nicht in die Museen. Die Kunstgalerie-Leute und Irgendwas-mit-Medien-Studenten werden uns später berichten können. Kultur gibt es an diesem Tag dennoch. Das Grauzone-Festival zeigt die Dokumentation „Electronic Body Movie“, in der unter anderem Bandmitglieder von Front 242, DAF und Nitzer Ebb ihren Blick aufs Genre kundtun. Dann steuert das Festival einem seiner Höhepunkte entgegen.
Etwa 35 Jahre liegt das letzte Lebenszeichen der Band Xmal Deutschland zurück. Da kann man schon guten Gewissens vom Comeback des Jahres sprechen. Als die Pausenmusik ausgeht und das Saallicht gedämmt wird, hat die Spannung ihren Höhepunkt erreicht. Die ersten Töne des Xmal Deutschland-Klassikers „Boomerang“ ertönen. Boomerang? Ja, klar. Der kommt ja auch zurück. So wie Anja Huwe. Die Songauswahl kann doch kein Zufall sein.
Dann: Auftritt Anja Huwe. Schwarzer Hosenanzug, darüber eine Felljacke, wie sie sie auch in ihrem Comeback-Video zu „Rabenschwarz“ trägt. Die Haare immer noch platinblond, aber nicht mehr zur Vogelnest-Frisur toupiert wie in den 80ern. Der Klang der Band ist brillant. Anja Huwes charismatische tiefe Stimme changiert während des Sets zwischen Romantik und Grusel.
Glücklicherweise hat die Xmal-Deutschland-Frontfrau nichts von ihrer nonchalanten Coolnes verloren, die damals ein Stück weit zum Erfolg der Band beigetragen haben dürfte. Die Felljacke hätte sie nach dem Boomerang-Intro natürlich auch einfach aufs Schlagzeug-Podest hinter sich legen können. Aber Anja Huwe wirft sie mit einer lässigen Handbewegung genau daneben, wo sie von einer Stagehand sofort beiseite geräumt wird. Auch sonst sitzt jede Handbewegung.
Hinter der Band werden stimmungsvolle Visuals auf einer Leinwand projiziert, während weiße Lichtkegel um die Sängerin herumtanzen. Hin und wieder geht Anja Huwes Blick zum Keyboard, hinter dem niemand Geringeres als Mona Mur steht. Noch so eine Ikone des deutschen Undergrounds der 80er Jahre. Mona Mur war es auch, die maßgeblich am Comeback von Xmal Deutschland respektive Anja Huwe mitgearbeitet hat. Selbst war sie aber nie Teil der ursprünglichen Band.
Die großen Hits kommen natürlich zum Schluss. Bei „Mondlicht“ und „Incubus Succubus“ gehen die Arme im Publikum nach oben. Ob Anja Huwe überhaupt weiß, dass sie über all die vielen Jahre bis heute in eingeweihten Kreisen verehrt wird und dass diese Hits noch immer auf einschlägigen Partys für volle Tanzflächen sorgen? Irgendjemand muss es ihr gesagt haben, sonst ergibt das alles hier ja keinen Sinn.
Natürlich hätte dieser Auftritt auch in die Hose gehen können. Doch wie bereits beim Album „Codes“, mit dem sich die Sängerin vergangenes Jahr zurückgemeldet hat, gelingt auch bei der Live-Umsetzung die Balance aus Nostalgie und Moderne. Anja Huwe setzt an diesem Abend in Den Haag ihre Gothic-Tradition in Würde fort. Wobei sie ja mit dem ganzen Gothic-Ding angeblich überhaupt nichts anfangen kann. Geschenkt! Der riesige Rabe, der sich durch den Nebel im Bühnenhintergrund schält, während die Band den vom „Fetisch“-Album stammende düster-punkigen Song „Geheimnis“ intoniert, spricht eine andere Sprache. Wir verlassen nach einem gelungenen Comeback-Konzert beseelt den Saal.
Grauzone Tag 3 – Das coolste Hipster-Goth-Festival der Welt
Am dritten Tag steht das aus Kanada angereiste Projekt TR/ST ganz oben auf dem Wunschzettel. Vorher begeistern ADULT. mit ihrem dystopischen Elektrosound und einer energiegeladen Live-Show. Die Band krönt ihren Auftritt mit einer Coverversion des Tuxedomoon-Klassikers „No Tears for the Creatures of the Night“. Dazu springt Sängerin Nicola Kuperus von der Bühne ins jubelnde Publikum, das komplett ausrastet. Was für ein Abriss!
In der Umbauphase geht´s noch einmal ins Foyer, das so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt des Festivals ist. Hier gibt es neben der Garderobe, einer Theke und einem Imbiss auch immer viel zu gucken. DJs beschallen den Raum. Wenn sie den Nerv der Anwesenden treffen, wird zwischen den Treppen und Toiletten auch spontan getanzt. Vor einer Wand haben die Festival-Macher einen roten Teppich ausgerollt, dahinter prangt das Grauzone-Logo. Für das Blitzlichtgewitter müssen die Gäste schon selbst sorgen. Zwei Grufti-Girls ziehen noch einmal den Eyeliner nach, bevor sie in ihre Handykamera posen. Dann schiebt sich ein Trüppchen in Rockstar-Outfits ungeduldig ins Bild. So divers wie das Line up ist auch das Publikum.
Auf der Bühne stehen inzwischen zwei Podeste, auf denen jeweils ein Keyboard thront. Es gab Zeiten, da traten TR/ST mit einer leibhaftigen Schlagzeugerin auf. Das habe dem Sound mehr Druck verliehen, erklärt mir ein Fan. Mag sein. Kraftvoll ist das, was jetzt folgt, aber auch ohne echte Drums.
Sänger Robert Alfons und sein Tastenmann kommen auf die Bühne. Beide im Outfit der belgischen Kultmarke Ann Demeulemeester gekleidet. Alfons hat die Haare deutlich kürzer als sonst. Fast hätte man ihn deshalb nicht erkannt. Seine Pose hat sich nicht geändert. Der Kanadier hält sich mit einer Hand am Mikrophonständer fest, während er ungeduldig über die Bühne hüpft. Dann bricht das Electro-Dance-Gewitter los. Die Mischung aus Synth-Pop, Dark Wave und Trance bringt die Menge vom ersten Ton an zum Tanzen. Robert Alfons’ Stimme, die zwischen Bariton und Falsett vibriert, ist einzigartig: androgyn, etwas schmutzig, manchmal blechern. Auf jeden Fall sexy. Als „Bulbform“ erklingt, kocht der Saal.
Die Afterparty findet in einem Keller statt, in dem bei unserem Eintreffen bereits das Kondenswasser von der niedrigen Decke tropft. Ein DJ, der sich Graaf Drankula nennt, legt gerade die Pet Shop Boys auf. Nach ein paar Drinks und Tanzeinheiten verlassen wir einigermaßen erschöpft aber glücklich die Grauzone. Gäste, die schon öfter hier waren, sprechen von der bisher besten Ausgabe des niederländischen Musik-Spektakels. Es ist sehr wahrscheinlich das coolste Hipster-Goth-Festival der Welt.
Hoffentlich gehen „Xmal Deutschland“ auch auf Tour oder geben wenigstens eine Handvoll Konzerte. Die würde ich extrem gerne einmal live sehen. 🎶🙏
Dafür würde sogar ich meinen Hintern wieder einmal vom Sofa bewegen… 😄
Danke für Deinen Bericht, Franky! Das Festival hatte ich gar nicht auf dem Radar, aber ich tummel mich ja auch nicht auf facebook und lebe dadurch etwas hinter dem Mond ;-) Es sind ja durchaus einige interessante Acts aufgetreten.
Habt Ihr den EBM-Doku-Film denn gesehen (geht aus Deinem Text nicht so richtig hervor), und wenn ja, wie fandet ihr ihn? Der hätte mich interessiert.
Ob X-Mal Deutschland live jetzt noch so einen Reiz für mich hätten, bin ich etwas unschlüssig. Das Schräge, Wilde und auch ihre wilde Optik hat sie ja damals ausgemacht und der Zahn der Zeit dürfte dann doch einiges am Flair kosten… Man kann die Zeit leider nicht immer zurückdrehen.
Nach den ersten Gesags-Schwierigkeiten, die Anja in den Griff bekommen hat, hattet Ihr da den Eindruck, dass noch gut Power da ist und herüberkam?
Ja, wir haben uns die EBM-Doku angeschaut. Es ist ein Zusammenschnitt von Interviews verschiedener Protagonisten der EBM-Szene. Das war schon interessant, aber es hätten ein paar mehr Anekdoten oder Gossip drin vorkommen können. Dazwischen werden Mitschnitte von Konzerten gezeigt.
Xmal Deutschland bzw. Anja Huwe sind vielleicht nicht mehr so wild und schräg wie früher, aber das hätte ich auch albern gefunden, wenn die da nach 35 Jahren Auszeit, einen auf Girlie-Punks machen. Das kann dann ja auch schnell tragisch wirken.
Anja Huwe hat definitiv Charisma, und das kommt auch immer noch rüber. Ich hatte den Eindruck, dass sie auch echt gerührt war, wie sehr sie in Den Haag vom Publikum gefeiert wurde. Die Songs entfalten ihre Wirkung und wurden visuell von geschmackvollen Videos begleitet. Ich muss echt sagen: Anja Huwe hat alles richtig gemacht.
Darum: Unbedingt anschauen, wenn die Chance besteht! Einzig ihre Befremdung gegenüber der Gothic-Szene, die sie immer mal wieder raushängen lässt, geht mir auf den Keks. Gerade die Goths sind die treuesten Fans und haben mit dafür gesorgt, dass dieses Comeback ein Erfolg ist. Aber mit dieser Attitüde ist Frau Huwe ja nicht allein und kann sich mit Andrew Eldritch die Hand reichen. Der hat mit der Gothic-Szene ja auch rein gar nichts zu tun. ;-)
Danke für die ausführliche Antwort! Ja, ich würde es auch aufgesetzt finden, wenn sie sich wie junge Wildfänge gebaren würden, aber insofern bin ich auch etwas traurig, ihre alten Zeiten verpasst zu haben. 1989 war ich zwar schon Grufti, aber X-Mal Deutschland hab ich erst mit meinem Umzug nach Berlin, Anfang der 90er, kennen gelernt… Nun ja. Ich würde mir die Band dann nach deinem positiven Erfahrungsbericht auch gerne jetzt noch anschauen wenn sich die Gelegenheit ergibt.