Die Selektion – Noire

In dunklen Zeiten, in denen Techno mit Industrial verwechselt wird und auf musikalischen Müll das Label  EBM geklebt wird um lustlos aneinandergereihte Beats einen Hauch von Manufaktur zu geben, ist man froh, wenn sich echte dunkle Perlen durch den Untergrund an die Oberfläche spielen, um dort eindrucksvollen Wellen zu schlagen. Bereits im März berichtete ich über die tanzenden Träumer der Selektion, nun halte ich das angekündigte Album „Noire“ in elektronischer Form und als Tape (!) in meinen Händen. Ein verregneter Tag wie dieser, ist genau die richtige Gelegenheit, darüber zu schreiben.

Ich habe mir die Freude gemacht, ein altes Tape-Deck anzuschließen, das Band einzulegen und die Play-Taste zu drücken. Still und leise schleicht sich das erste Stück Du Rennst in die Gehörgänge, bevor der treibende Beat, die für die Selektion so typische Trompete (Hannes Rief) und die breiten Synthie-Teppiche (Max Rieger) ausgebreitet werden, auf die man sich sofort legen möchte, um sich im Klang der Musik zu wälzen, was zunächst verwirrt und sich dennoch als angenehme Disharmonie präsentiert ist der verzerrte Gesang (Luca Gillian), der mich schon im März sofort an Gabi Delgado erinnerte, dem aber in nichts nachsteht, nicht imitieren will, sondern eine ganz eigene Dynamik erzeugt. Ein großartige Eröffnung.

Ähnlich tanzbar präsentiert sich Steine auf dein Haupt, das der Eröffnung folgt und die Beine auf der Tanzfläche in Bewegung hält, sich aber deutlich zurückhaltender präsentiert. Die Assoziation mit der sprichwörtlichen Asche, bei dem man seinen Fehler eingesteht, kann ich nicht nachvollziehen, denn ein Fehler war das sicher nicht, auch wenn das Stück nicht ganz an die Energie des Vorgängers heranreicht.

Als Deine Augen aus dem Lautsprechern nach vorne treibt, ist die Marschrichtung klar. Hier soll Transpiration erzeugt werden und schweißnasse schwarze Haare in den Gesichtern der tanzende kleben. Nebel und zuckende Lichteffekte, so stelle ich mir das wohl vor. Die Einleitung ist zärtlich und hält nur kurz, bevor es zur Sache geht und in Sachen BPM deutlich einen draufsetzt. Mit Intermezzo endet die A-Seite des Tapes, rund 2 Minuten braucht die Selektion um dem Hörer ein Entspannung zu verschaffen, hier wird nicht geklotzt sondern gekleckert und das ganz bewusst. Mit einem lauten „Klack!“ deutet mein Tape-Decke auf die Tatsache hin, das es nun tatsächlich vorbei ist mit der ersten Seite. Ich drücke den Eject-Knopf und fühle mich so herrlich nostalgisch, als das Kassettenfach sanft nach vorne gleitet. Das Geräusch, wenn man eine Kassette entnimmt und umdreht ist unverwechselbar und dürfte jedem Nostalgiker ein Genuss sein.

Man sollte sich schnellst möglich wieder zwischen die Lautsprecher bewegen um dort weiterzumachen, wo man aufgehört hat. Puppenspieler kündigt sich lautstark an „Geh uns aus dem Weg! Wir hassen dich, wir lieben dich…“ und vermag dem Hörer das Gefühl der gesungenen Emotion vermitteln und lässt den Begriff der Hassliebe in einem ganz neuen Kontext erstrahlen.

Raben ist mein persönliches Highlight des Albums, denn es vereint noch einmal gekonnt das, was die Selektion für mich ausmacht. Ein schwarzer Flokati aus Synthesizer-Klängen der auf einem subtilen Beat die Melodie der Trompete begleitet, die so ausgezeichnet zu diesem Sound passt, dass mir immer ganz schummrig wird, als würde die wohlig warme Dämmerung endlich das Schwarz der Nacht einläuten. Noch hadere ich mit mir, ob  ich einfach die Augen schließen soll, um die Musik in mich hineinkriechen zu lassen, doch dem Text kann ich nicht entkommen. „Tanz die Liebe, die dich durchdringt bei Tag bei Nacht  / Was ist dir dein Leben wert?

Wie kann man ein so krönendes Album, ein so nostalgisches Tape würdig abschließen. Die Band liefert die Antwort selbst, mit Liliana beginnt das gefühlvollste Stück, das man frech als Ballade einstufen kann, ohne jedoch seinem Grundkonzept untreu zu werden, ohne dabei schnulzig zu klingen und ohne das Gefühl zurückzulassen, seinem Stil untreu geworden zu sein. Das Stück klingt so aus, wie es begann und wird nur durch das „Klack!“ des Tape-Decks unterbrochen, das unfreiwillig die Beleuchtung einschaltet. Instinktiv öffne ich das Tape-Deck, wende die Kassette und drücke auf Play.

Wer wieder einmal etwas elektronisches mit Anspruch sucht, einen Ausgleich zum EBM Einheitsbrei sucht, sich gerne an alte Zeiten erinnern lässt ohne dabei das Neue zu vergessen, dem sei das Album „Noire“ von die Selektion ans Herz, oder besser, ins Herz gelegt. Wie angekündigt, wird das Album auch bald in einer größeren Auflage erscheinen und einem bis dahin hoffentlich gewachsenen Publikum zu Ohren kommen.

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Thorleif
Thorleif (@guest_16068)
Vor 13 Jahre

Dem bleibt nicht viel hinzuzufügen, außer: Die Selektion unbedingt live on Stage erleben!
Hier ein kleiner Vorgeschmack vom Konzert in der Supamolly in Berlin F’hain:

http://www.youtube.com/watch?v=n7xgiUjyvcA

Pixella
Pixella (@guest_16075)
Vor 13 Jahre

Hört sich sehr gut an! Nur wo kann man einen Tonträger von „Die Selektion“ her bekommen?
Kassetten sind übrigens genauso großartig wie Platten. Die kommen mir irgendwie wertvoller vor als CDs.
Ich habe noch Anfang des Jahres einen ganzen Schwung Rock-Mixtapes von einer Musikkneipe vom Sperrmüll gerettet, die dudeln andauernd bei uns.;)

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