No More? Eine Band aus Kiel, die ihrem Namen glücklicherweise nie gerecht wurde. Auch nach 40 Jahren machen Andy Schwarz und Tina Sanudakura immer noch Musik und bringen anlässlich ihres Jubiläums die Sammlung „Love, Noise & Paranoia“ heraus. Und tatsächlich fühlt sich diese Leidenschaft für Musik und der Rückblick auf 40 Jahre Musik so an, als würden Liebe und Lärm wider dem Verstand zusammengehören.
Zwischen 1976 und 1978, Andy und Tina sind gerade zarte 15 Jahre alt, gräbt sich Musik unter die jugendliche Haut der beiden Kieler. Die Mischung aus New Wave, Punk und No Wave hinterlässt einen prägenden Eindruck und verleitet die Beiden dazu, im Sommer 1979 zusammen mit Thomas Welz und Christian Darc die Band „No More“ zu gründen. Ihre erste Veröffentlichung „Too Late“, von der die Musikzeitschrift „Sounds“ annimmt, sie sei „absichtlich kaputt gemacht“ worden, ist eine Collage der Einflüsse der Band, die Andy mir gegenüber so zusammenfasst: „David Bowie, Iggy Pop, Adverts, Blondie, Stranglers, Wire, Sex Pistols, Ultravox!, PIL, Bauhaus, Siouxsie and the Banshees, Television, Tubeway Army, Teenage Jesus, Simple Minds…Das ist unser Blues!„
1981 ensteht ihr Durchbruch „Suicide Commando“, der im Grunde genommen erst Ende 1983 so richtig durchbricht. Die Musikzeitschrift „NME“ findet, er sei „suitable German electro fashion“ und straft den Song mit lakonischer Anerkennung und britischer Arroganz. Den Fans ist das egal, das Stück wir zum Hit der aufstrebenden schwarzen Szene. Irgendwann haben No More keinen Bock mehr auf den Song und weigern sich, ihn live zu spielen. Bevor sie sich 1986 trennen, spielen sie ihn noch letztes mal, ohne zu wissen, dass er sie möglicherweise bis heute am Leben erhält. Es scheint, als würde sich die Prophezeiung „No More“ selbst erfüllen.
1998 ruft DJ Hell den Song mit einem Remix zurück ins kollektive Gedächtnis der Szene. Internet und eine beginnende Sucht nach dem Gefühl von damals bringen die Band wieder ins Gespräch. 2005 bringen Andy Schwarz und TIna Sanudakura ihre Erinnerungen „Dreams“ auf Vinyl heraus, doch erst 2007 finden das, was ihnen fehlt und erfinden sich neu. Mit „Remake / Remodel“ findet die Band No More wieder den Weg zurück in Rampenlicht. Genug haben sie noch lange nicht.
40 Jahre No More – Andy Schwarz und Tina Sanudakura schauen zurück
Die eigene Rückblende „Love, Noise & Paranoia“ beschreibt die Lebenswelt der Beiden, die sie in 40 Jahren geprägt hat: Die Liebe zur Musik, der Krach für das Gefühl und die Paranoia als „ironische Brechung“ mit der damaligen Stimmung von „No Future“. So zitiert man die Beiden in einem Artikel der Kieler Nachrichten, die auch über das Jubiläum und die vergangenen 40 Jahre schreiben.
Doch um eine Band kennenzulernen, lesen wir uns auch keine Rezensionen durch, schauen uns Fotos der Band an oder studieren Biografien, sondern wir hören uns an, was die Musik und der Text uns erzählt. Ich habe Andy und Tina gebeten, in Worten und Musik, die sie beeinflusst hat, zusammenzufassen, wie sie die letzten vier Jahrzehnte empfunden haben:
1979 – 1989: Das Jahrzehnt der Träume und was aus ihnen wurde
„NO MORE gründen die Band 1979, als Punk und New Wave die 70er hinwegfegen und lösen sich 1986 auf, als die 80er zu sehr 80er sind.“
Die Band Ultravox! liefern mit ihrem Song „The Wild, The Beautiful And The Damned“ den Soundtrack zu George Orwells düsterer Vision „1984“:
„Don’t ask for explanations – There’s nothing left you’d understand. You’re one of the wild, the beautiful and the damned“
Wir steigen 1979 ein und 1986 wieder aus.
Am Anfang ist alles bunt gemischt, offen, wild und immer DIY – Do It Yourself. Amateure (lateinisch amator „Liebhaber“) und Dilettanten, manchmal genial. „Suicide Commando“ (1981) startet Anfang ’84 durch, wir spielen zum ersten Mal im Ruhrgebiet. Fortan nehmen wir uns „Practice Makes Perfect“ von Wire zu Herzen und „Suicide Commando“ aus der Setlist, wechseln die Besetzung, den Stil und platzieren uns zwischen allen Stühlen.
Irgendwann im Sommer 1986 spielen wir unser letztes Album als Viererbande ein, lösen die Band auf und spielen noch ein Abschlusskonzert in Oberhausen und geben sogar „Suicide Commando“ zum Besten.
„7 Years“. Vorhang.
Ende des ersten Akts.
Drums & Bass bleiben zurück im Norden, wir ziehen für ein Jahr nach Bochum und gründen „The Nijinsky Style“ unsere Mischung aus Chanson, Walzer und Tango.
Deutschland vereinigt sich.
1989 – 1999: Das verlorene Jahrzehnt
Die 90er sind für uns das verlorene Jahrzehnt, aber alle sind gut drauf. Zwischenzeitlich sind wir wieder zurück in Kiel. Unsere neue Band „The Nijinsky Style“ hält 3 Alben bis etwa 1993 durch. Danach scheint wirklich alles auseinander zu fallen.
„Never found our way
Regardless of what they say
How can it feel, this wrong
From this moment
How can it feel, this wrong“
(Roads – Portishead)
Immerhin sind wir glücklich, EBM, NDH und was auch immer es da noch gab, überhaupt nicht mitbekommen zu haben, dafür aber Tricky. Wir spielen erst Chansons der anderen Art, dann wird die Musik an den berühmten Nagel gehängt.
„For a minute there
I lost myself
I lost myself
Phew, for a minute there
I lost myself
I lost myself“
(Karma Police – Radiohead)
1998 fragt DJ Hell an, ob er seinen Remix von Suicide Commando veröffentlichen darf. Er darf. Sein großartiges, durch die Barschel-Affaire inspiriertes Video fliegt erst in und dann aus der Rotation der Sender. Zu heftig. Kult. Gleichzeitig veröffentlichen Echopark ihre Version, mit neuem, aber original gesungenen Vocaltrack.
1999 – 2009: Zwischen Aufbruch und Niedergang
Im Jahr 2001 liefern „The Strokes“ ihren Song „Is this It“. Yes it is! Das Jahrzehnt des Aufbruchs. The Strokes geben Hoffnung und wir machen für sie einen MTV-Werbeclip. Wir versuchen uns online in Promotion-Gadgets für Depeche Mode oder HIM
Terroranschläge am 11. September 2001. Das Jahrzehnt des Niedergangs.
2006 hat Suicide Commando 25 jähriges Jubiläum – das Label möchte eine CD mit allen Versionen, wir möchten auch neue Versionen anderer Songs und neue Songs. „Remake / Remodel“ erscheint als Doppel-CD. 2007 kuratieren wir in der Kieler Kunsthalle die „Kein Kiel“-Austellung – Post-Punk & No Wave – Kieler Musikszene 1977-1982.
Ende 2008, die ersten beiden Auftritte als NO MORE nach 22 Jahren. Posen & Warschau als Testläufe. Ab da gilt wieder Wires bewährtes „Practice Makes Perfect“.
Die Musik (im Allgemeinen) scheint sich zu verflüchtigen. Welche Musik haben wir zu der Zeit gehört? Da hilft nur Google. Radiohead, The Streets, Arctic Monkeys, Tocotronic, Einstürzende Neubauten sind dabei.
2009 – 2019: In Italien gibts Schlaglöcher mit Babyelefanten
Zeit und Orte beginnen zu verschwimmen. Wie in 200 Motels von Frank Zappa.
Das erste Mal in Rom, im Halbschlaf auf die Bühne. Das erste Mal Paris, kein Kleingeld für das Parkhaus. Wir eröffnen das Mera Luna 2009 auf der riesigen Hauptbühne und kaum jemand ist da, dafür sind wir um 16:00 Uhr wieder zuhause.
Wir spielen eine Reihe Shows mit D.A.F., Anne Clark und Psyche werden unsere Partners In Crime. In Neapel gibt es Schlaglöcher, in denen man Babyelefanten baden kann, kurzes Nickerchen auf dem Boden der Garderobe bevor es auf die Bühne geht. Wir unterschreiben bei Rent-a-Dog, gründen unseren eigenen Verlag und machen das, was man so macht D.I.Y.
Wir spielen Suicide Commando beim Bremer Viertelfest während sich Stadtfestmassen an der Bühne vorbeidrängen, den schwarzen Block freuts.
In der Notaufnahme in Rom, beklaut in Budapest. Ekstase in Lille, jedes Jahr KEIN KIEL in Kiel.
2016, Bowie stirbt.
1979 war erst gestern.
NO MORE! – Ein Schlusswort in eigener Sache
Ich danke Andy und Tina für ihren Rückblick und gratulieren recht herzlich zu 40 paranoiden Jahren! Wer möchte, besucht die Band auf ihrer Internetseite www.nomoremusic.eu und kauft das prall gefüllte Album mit alten und neuen Stücken, mit unveröffentlichtem Material und ganz viel Erinnerungen.
Die Band aus Kiel hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Es muss 2006 gewesen sein, als ich mich wieder für die schwarze Szene interessierte, die ich irgendwann 1991 verlassen hatte. In einer Discothek, irgendwo in Duisburg, schaute ich mir entsetzt an, wie Knicklichter zu düsteren Techno-Beats geschwungen wurde, obwohl die Flyer von einer Gothic-Party redeten. Ich verkrümelte mich auf eine kleinere und abseits gelegene Tanzfläche, auf der jemand stand, der so aussah wie früher und sich so bewegte, als würde er die Musik ganz tief in sich reinkriechen lassen wollte. Ein Song, den ich noch nicht kannte, lockte mich auf die Tanzfläche:
Und da war Hoffnung! Ich begann, einen Blog mit Inhalt zu füllen, weil ich die vermisste, die die Musik in sich kriechen lassen und mit denen, die mit Camping-Lichtern fuchtelten, nichts anfangen konnte. Den Rest der Geschichte werden die meisten wohl kennen. Wer sie nicht kennt, findet sie hier in zahlreichen Beiträgen. Auch No More sind ungefähr seit dem Zeitpunkt wieder in der Szene unterwegs. Irgendwie haben mich Tina und Andy dann verfolgt, weil sie auch immer Live da waren, wo ich war. Oder war es umgekehrt?
Ich glaube, mir imponiert ihre Loyalität. Zur Musik, zu sich Selbst, zur Szene und zu den Dingen und Menschen, die sie lieben. Ich freue mich auf weitere Jahre. Hier muss niemand mehr die Musik an den Nagel hängen. Schon gar nicht, wenn solche Songs dabei entstehen, wie dieser: