Ein Jahresrückblick gehört zu den wenigen Ritualen eines Bloggers, denen ich mich gerne anschließe. Doch anstatt euch mit langweiligen Zahlen und Statistiken zu nerven, wie ich es bereits 2010 gemacht habe, wollte ich dieses Jahr etwas persönlicheres schreiben. Ich entschied mich für eine chronologische Reise durch die Monate, bei der ich Artikel herauspicke, die bei mir einen besonderen Eindruck hinterlassen haben, in denen man besonders heiß diskutierte, die häufig aufgerufen oder schlichtweg überhaupt nicht beachtet wurden. Da ich aber nicht in der Lage bin mich kurz zu fassen, entschied ich mich für einen knackigen Zweiteiler.
Januar
Startschuss für den Gothic Friday. 12 Monate und 12 Themen sollten es werden, die den Teilnehmer und den Leser in die eigene Vergangenheit, die Gegenwart und die mögliche Zukunft führen sollten. Abseits von Fachliteratur, Magazinen und Berichten wollten Shan Dark und Ich ein Bild von dem zusammenfügen, was Gothic war, ist und ausmachen könnte. Wie viel Arbeit wir uns damit einbrocken würden, wussten wir nicht, wie viel Freude es uns machen würde, ahnten wir nicht und wir machten uns keine Vorstellung davon, wie so manches Thema die eigene Sichtweise änderte. Mit dem ersten Thema „Wie bist Du in die Szene gekommen?“ wurde uns aber schnell klar, wie spannend, vielfältig und unglaublich bereichernd diese Aktion werden würde.
Der Graf polarisiert die Leser. Der Artikel „Der Graf und sein Produkt: Scheinheilig – Geschoren um zu erleben?“ wird heiß diskutiert. Der beispiellose musikalische Erfolg, der in der Szene begann und nun im Mainstream die Massen begeistert, ist vielen treuen Unheilig-Fans sauer aufgestoßen. Doch die Menge der neuen Fans, die Unheilig durch ihre „große Fahrt“ gewonnen haben, lässt den Verlust verschmerzen. Der Graf kann von seiner Musik leben, ein Ziel das viele Musiker seit Jahren verfolgen. Er hat in Kauf genommen, durch massive Medienpräsenz den Erfolg zu vergrößern. Ihm ist jeder Fan recht. Jeder der seine Musik mag, zu seinen Konzerten geht und die CD im Laden kauft. Ein Weg, den viele seiner Kollegen eingeschlagen haben und einschlagen werden.
Februar
Ein Nager hebt ab. Mit dem letzten Teil der 8-teiligen Reihe „Ratte macht die Fliege“ endet ein legendärer Foto-Love-Roman der Bravo, der 1987 als Vorlage und Szene-Einstieg für viele Jugendliche diente. Man fühlt mit Carla, der Gruftie-Braut aus München, die sich aufmacht die englische Insel zu erobern, um ihrer Szene-Zugehörigkeit die krönende schwarze Kirsche aufzusetzen. Die Freundinnen, die zunächst von Carla begeistert sind, sind nun zerstritten. Ein Ausflug in die Szene hat für neue Prioritäten gesorgt. Während Dagmar in den Armen ihres Freundes liegt, wird Vero immer extremer und zur Einzelgängerin.
Geknickt, geschüttelt und zum Leuchten gebracht. Spontis thematisiert erneut den Konflikt zwischen Cyber und Gothic und titelt: „Cyber: Nur noch eine Mode?„. Die Frage, ob diese Bewegung eine reine Modeerscheinung ist, oder doch mit Inhalt gefüllt werden kann, wird 120 mal kommentiert. Für mich bleibt der Eindruck, dass eine Subkultur ohne Inhalt sich irgendwann in Wohlgefallen auflöst und eine Szene ohne Gemeinsamkeiten keine Szene ist. Es geht um falsch verstandene Toleranz, Abgrenzungsverhalten und musikalische Inkompatibilität. Ausgang: offen. Schlussfolgerung: unklar.
März
Das Bühne ist männlich dominiert, auch in der Musik der Szene. Während sich die Gothics als Szene mit relativ hohem Frauenanteil präsentieren, muss man die weiblich geführten Acts mit der Pinzette herauspicken. „Männlich dominierte Szene sucht: Östrogen – bitte melde dich“ nenne ich meinen Aufruf an die Frauen wieder mehr Präsenz auf der Bühne zu zeigen. Nicht weil wir Männer sonst nichts anzuhimmeln hätten, sondern nur wegen der Abwechslung. Es wäre doch schön, wenn Frauen nicht als knapp bekleidete Bühnenhasen dienen würden, sondern wenn sich auch mal Männer lasziv zu der engelsgleichen Stimme einer Frau räkeln würden, oder?
Der Artikel „Mit Worten: Treffpunkt Domplatte Reloaded“ bringt die kommentierenden Damen auf falsche Gedanken. Sie präsentieren ihren besten Anmachsprüche: Spruch 1: Kannste mir mal deinen Kajal leihen? – Spruch 2: **stolper** Huch, mein nietenarmband hat sich in deinem Spinnennetz-Shirt verfangen. Magst mir raushelfen?? – Spruch 3: Tschuldigung, kannst du mir mal den Stiefel schnüren? Das geht mit den Samthandschuhen so schlecht. – Spruch 4: Du siehst aus wie frisch gebissen –oder wo hast du dich in den letzten 400 Jahren vor mir versteckt? – Spruch 5: Du stehst auf meinem Lackmantel… und ich steh auf deine Bondage Hose. Wenn das funktionieren sollte, wirft das ein zwiespältiges Licht auf die Herren der Schöpfung.
April
Komme ich jetzt ins Fernsehen? Die Picture Puzzle Medien Produktionsfirma suchte für eine Sendung Gothic-Szenemitglieder, die sich einige Tage im Gothic-Alltag mit der Kamera begleiten lassen. Ein Angebot, dass ich leider ablehnen musste. Ich halte meinen Alltag für sterbenslangweilig (obwohl diese Wortwahl natürlich wieder durch eine klischeehafte Mehrdeutigkeit glänzt) und habe natürlich abgelehnt. Es war so ärgerlich, hätte ich doch nur einen Alltag voller Tieropferungen, Kreuzen, Spinnweben und dunklen Ritualen. Sicher wäre ich dann mutiger gewesen und hätte das Angebot angenommen. Nachzulesen im Artikel „Neulich im virtuellen Postkasten: Möchten Sie ins Fernsehen?“
Grufties sind sportlich. Sie laufen, bis der Kajal vom Schweiß gelöst die Wangen herunterläuft, sie trainieren ihre Muskeln, bis die Netzhemden zum zerreißen gespannt sind, und sie färben das Wasser der Schwimmbades schwarz, während sie angestrengt ihre Bahnen ziehen. Warum? Kein Kommentar auf das Bild im Artikel „Ohne Worte: Sport ist Mord“ sprechen eine deutliche Sprache.
Mai
Das WGT steht unmittelbar bevor. Während ich selbst in den USA verweile, kümmert sich eine Horde liebenswürdiger Grufties um weitere Inhalte im Blog. Orphi zieht mit ihrem Beitrag „Hey, Gothic! Bist du true oder untrue?“ die meisten Leser in ihren Bann. Die aus dem umgangssprachlichen Gebrauch stammende Floskel „True“ oder „Untrue“ bezieht sich demnach auf Äußerlichkeiten. Dem Schein wird offenbar mehr Bedeutung zugemessen, als dem inneren Glanz, der den Schein womöglich zum Leuchten bringt. Selbst die Verfasserin selbst scheint sich ihrer Selbst nicht sicher zu sein, denn auch sie vermag nicht zu erklären, was eigentlich „true“ ist.
Ich wurde genötigt, bedrängt und verführt. Ein leichtes Spiel für die Leser des Blogs, mich zu einem „Spontis Family Treffen zum WGT in Leipzig“ zu animieren, denn ich war willig und bereit und habe nur den Bedrängten gespielt. Man will ja nicht wie jemand wirken, den man leicht beeinflussen kann. Rückblickend kann ich sagen, dass ich dumm gewesen wäre, wenn ich das Treffen nicht veranstaltet hätte, denn die Möglichkeit einige Leser in Fleisch und Blut kennen zulernen hat mich tief bewegt und nachhaltig beeindruckt. Ich freue mich schon jetzt auf eine Wiedersehen, wenn es 2012 heißt: Spontis-Family Treffen in Leipzig!
Juni
Während andere im Staub der Wüste nach längst vergangenen Kulturen suchen um mit spektakulären Neuentdeckungen zu glänzen, machen ich meine Entdeckung des Jahres in Velbert. Schementhemen ist eine Lese- und Kulturbühne mit amplitudenhaftem Niveau, es bewegt sich bewusst nach oben um mit skurrilen Geschichten zu beeindrucken und wieder in steiler Talfahrt nach unten, um mit Fäkalhumor die Zuschauer zum lachen zu bringen. Mich natürlich nicht, ich bewege mich logischerweise nur auf der Spitze der Amplitude. Fortan besuche ich die Lesungen regelmäßig und werde auch sicherlich 2012 des öfteren im Flux zu finden sein. „Schementhemen mit Myk Jung und Klaus Märkert“ bietet einen Überblick über die Dinge, die den Besucher erwarten. Bei Schementhemen-Jahresausklang mit anschließendem skurrilen Wichteln habe ich ein Poster der Subkulturen ergattert. Irgendwie passend und bezeichnend.
Das WGT hinterlässt Spuren. Der Pressespiegel zum Wave Gotik Treffen 2011 gehört im Juni zu den beliebtesten Beiträgen. Man ist neugierig, wie die Presse das Treffen aufgenommen hat und zu welchen Schlussfolgerung sich Journalisten hinreißen lassen. Allen voran die BILD, die ihre lüsterne Leserschaft zu beeindrucken versucht: „Eine Straps-Domina führt ihren Sklaven an der Kette durch die Stadt. Nur in Korsett und Strümpfen, aber mit Sonnenschirm stolziert eine junge Frau über die Petersstraße. Eine Schönheit im durchsichtigen Reifrock macht die Grufti-Jungs verrückt. Schwarze Engel in knappen BH, Höschen und Netzstrümpfen schweben durch die City, dazu Elfen in Lack und Leder.“ Das weckt offenbar das Interesse, der neugierigen Leserschaft. Lack, Leder, Höschen, Strapse, Domina und Korsett sind die Schlagworte, die vielleicht den braven Familienvater zu nächtlichen Phantasien reizen, während seine Frau über Kopfschmerzen klagt und einschläft.