1988 wurde der ideologische Grundstein für das gelegt, was 4 Jahre später zum ersten Wave-Gothic-Treffen werden sollte. Ostdeutsche Gruftis versammeln sich in Potsdam, um die Walpurgisnacht in einer alten Ruine des Belvedere auf dem Pfingstberg nahe Schloss Sanssouci zu verbringen. Michael Brunner, einer der Gründer des späteren Treffens, erinnert sich in einem ausführlichen Beitrag zum Buch „Gothic! – Die Szene in Deutschland aus der Sicht ihrer Macher„, an die Entstehung und Entwicklung der Ostdeutsche Szene, ohne die es ein WGT wohl nie gegeben hätte.
In der DDR gab es zwar Gruftis, doch von einer Szene sprach noch niemand. Verbindendes Element war das gemeinsame Anders-Sein in einem Staat, der jedes nonkonforme Verhalten seiner Bürger beobachtete und verfolgte. Michael Brunner bestätigt, „daß es in der alternativen Jugendszene der DDR allgemein (zumindest anfänglich) einen starken Zusammenhalt gegeben hat. Der Wunsch, sich auf Grundlage bestimmter Musikgeschmäcker oder Outfits voneinander abzugrenzen, war weniger dominant. Besonders mit den Punks haben wir oft zusammengehangen. Da gab’s ja auch Gemeinsamkeiten beim Haarstyling. Auf den Feten – das Wort „Party“ benutzen wir nicht, es gab Feten, Feiern oder Feste – die wir privat organisierten, soffen und tanzten alle nach selbst überspielten, fürchterlich leiernden Kassetten. Es herrschte friedliche Koexistenz, alle kriegten ihre Musik. […] Der dunklere, darkige Mensch war in unseren Cliquen der Übergang zwischen dem totalen Popper und den Punks. Die Punks wiederum hatten Verbindungen zu den Metallern, die mit uns nicht viel am Hut hatten. Für die waren wir Popper und Weicheier. Später driftete sowieso alles auseinander und es gab auch Probleme mit Break-Dancern, quasi den Vorläufern der HipHop-Generation, und Skatern. Mit den aufkommenden Glatzen sowieso. Zunächst und generell aber war unser gemeinsamer Feind der „Stino“ (der STInkNOrmale Bürger)…“
Größere Treffen finden zu dieser Zeit nicht statt. Man läuft sich in Discotheken über den Weg oder trifft sich in Keller oder alten Ruinen, tauschte Musik auf überspielten Kassetten und versucht sich mit einfachsten Drogen aus der hoffnungslosen Realität zu katapultieren. Treffen in der Öffentlichkeit mutieren schnell zu einem Katz- und Mausspiel mit der Staatsmacht. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, ist die schwarze Szene der DDR gut vernetzt. Musik bekommt man meist durch Kontakte in die BRD, einzig das Jugendradio DT64 schafft es mit seiner Sendung „Parocktikum“ angesagte Musik aus dem Westen durch den Äther zu schicken.
Michael Brunner: „Ein Schlüsselereignis bei der Formierung der Szene im Osten war sicher das Treffen zur Walpurgisnacht 1988 in Potsdam. Ich hatte einen Lehrgang in Turbo-Pascal dort (…). Gleich am ersten Abend fuhr ich auf den größten Platz der Stadt. „Wenn sie sich irgendwo treffen“, dachte ich, „dann hier.“(…) Sie haben mir irgendwann das „Belvedere“ gezeigt. Nicht das Berühmte im Park von Sanssouci, sondern jenes auf dem Pfingstberg. Der Berg heißt wirklich so (…). Ich war begeistert von diesem Platz. Spontan entstand die Idee, an dieser Stelle gemeinsam einen verwunschen-romantischen Abend zu verbringen. Wir haben dann einige Freunde angerufen, (…) einen wunderbaren Kartoffelsalat gezaubert und Strickleitern geflochten, mit denen wir die Mauern übersteigen wollten. Scheuerlappen, in Wachs getränkt, dienten als wunderbarer Fackelersatz. Wir freuten uns auf eine malerische nächtliche Feier mit einem Dutzend guter Freunde.“
Als Brunner in seinen besten Gruft-Klamotten am Tag des Treffens im Café Heider, dem vereinbarten Treffpunkt, eintrifft, ist er überwältigt: „Das Café war völlig schwarz!“ Etwa 150 Grufties aus der ganzen DDR hatten sich in dem Café versammelt. Auf ihrem Weg zum Schloss Sanssouci, von dem sie zum Kapellenberg weitergingen, greift die Volkspolizei erst vereinzelt, später immer häufiger zu und zwingt so die Gruftis, sich im nahegelegenen Wald zu verstecken. Mit Einbruch der Nacht setzen sie ihren Weg fort und verbringen die bevorstehende Walpurgisnacht in der alten Ruine, die einst die Sommerresidenz für Kaiser Wilhelm II. werden sollte.
Am nächsten Morgen, dem 1. Mai 1988, machen sie die verbliebenen Leute dann auf, sich der traditionellen Mai-Demonstration anzuschließen. Brunner und die Gruftis vom Pfingstberg hatten noch keine Ahnung, was ein Jahr später passieren würde und wie sich das Leben für sie verändern wird.