Dieser Artikel wurde nicht veröffentlicht, weil das Thema stets eine hitzige Debatte mit sich bringt, die meist von außen in die Community gebracht wird. In der Vergangenheit hat der Blick in die sozialen Netzwerke bestätigt, dass es hierbei um das zementieren von Standpunkten geht, nicht um einen gemeinsamen Konsens.
Am vergangenen Freitag sollte bei einer Demonstration von Friday for Future in Hannover Ronja Maltzahn auftreten, eine junge Musikerin, die Dreadlocks trägt. Die Frisur war jetzt offenbar der Grund der Klimabewegung, den Auftritt kurzfristig abzusagen. Der Ortsverein der Bewegung ist der Ansicht, dass es sich dabei um eine nicht vertretbare kulturelle Aneignung handelt, wie der Spiegel berichtet: „Wenn eine weiße Person also Dreadlocks trägt, dann handelt es sich um kulturelle Aneignung, da wir als weiße Menschen uns aufgrund unserer Privilegien nicht mit der Geschichte oder dem kollektiven Trauma der Unterdrückung auseinandersetzen müssen“ Von dem Vorschlag, sich die Haare abzuschneiden, um dann doch auftreten zu können, distanzierte man sich jedoch später. Ich möchte ein bisschen Licht ins Dunkel der aktuellen Empörungswelle bringen und auch meine Sicht auf die Dinge schildern.
Cultural Appropriation ist das aktuelle Schlagwort einer Woken Bubble
Kulturelle Aneignung (Cultural Appropriation) ist – vereinfacht gesagt – das Tragen von Kleidung, Schmuckstücken oder Frisuren einer fremden Kultur, der man selbst nicht angehört. Ein Indianer-Kostüm an Karneval kann demnach ebenso als Kulturelle Aneignung gedeutet werden, wie die Dreadlocks der jungen Musikerin. Gerade hinsichtlich der Dreadlocks schreibt ein gewisser Greg Tate, den ich aus dem Wikipedia-Artikel zum Begriff kenne, in seinem Buch, „dass weiße Menschen alles aus schwarzen Kulturen übernehmen würden, außer die Diskriminierung, die damit verbunden ist, schwarz zu sein.“ Die Klimabewegung aus Hannover möchte nicht den Eindruck erwecken, „dass es in der Klimaschutzbewegung für diese Menschen keinen geschützten Raum gebe, in dem Diskriminierungen abgebaut würden.“
Die junge Leute, die ich für ihr Engagement für unser Klima sehr schätze, drohen in einer „Woken Bubble“ zu schweben. Das ist so eine Art Seifenblase von Leuten, die „ein „erwachtes“ Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus“ teilen und sich sehr netzaktiv darüber äußern. In dieser Blase des Unrechtsbewusstseins findet meiner Ansicht nach eine Überregulierung von Einflüssen statt, die vom eigentlichen Ziel der Bewegung ablenken. So scheinen die Aktivisten in einer Flut von Tweets und Posts zu ertrinken, die den Umgang mit einer jungen Musikerin mit Dreadlocks kritisieren, die allerdings mit dem eigentlichen Thema der Demonstration gar nichts mehr zu tun haben.
Goths sind Meister der kulturellen Aneignung
In unserer schwarzen Szene gehören Dreadlocks genauso dazu, wie auch Mohawks oder Irokesen – um bei Frisuren zu bleiben – die wir uns bei Indianerstämmen geklaut haben könnten. Aber auch religiöse Symbole, Piercings oder anderen Schmuckvariationen, die allesamt – bei genauester Betrachtungsweise – als kulturell angeeignet betrachtet werden können, gehören zum Repertoire unserer ästhetischen Vielfalt. Allerdings haben wir darin nie eine kulturelle Aneignung gesehen, sondern vielmehr eine Protest- oder Provokationshaltung.
Müssen wir uns nun die Dreadlocks abschneiden, die Iros rauskämmen und die Mohawks platt machen?
Ich bin auch der Ansicht, dass kulturelle Aneignung der Lauf der Zeit ist, da sich Kulturen immer schon gegenseitig beeinflusst haben. Kulturelle Vielfalt lebt von der gegenseitigen Bereicherung hinsichtlich Mode, Ernährung, Verhalten oder auch Sprachgebrauch und verfolgt in der Regel keine böse Absicht. Bei freundlicher Sichtweise könnte es auch als Wertschätzung empfunden werden oder auch als Anerkennung oder Erinnerungskultur. Allerdings bietet ein allzu positive Sichtweise viel Potential für grenzenlose Gleichgültigkeit, daher scheinen Grenzen einer kulturellen Aneignung doch sinnvoll, oder?
Die Gefahren kultureller Grenzen
Schuster bleib bei deinen Leisten! Die Fridays for Future Bewegung möchte sich klar von Dreadlocks distanzieren, weil sie meinen, „es sei wichtig, Schwarzen, indigenen Menschen und People of Color einen Raum innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegung zu geben“ und davon ausgehen, dass diese sich dadurch diskriminiert fühlten. Ein durchaus berechtigter Gedankengang, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Allerdings birgt das eine Gefahr, die sicher kein FFF-Aktivist eingehen möchte. Ein Öffnen für rechte Ideologien. Denn die kulturellen Eigenheiten nur bei den Angehörigen bestimmter Völker zu tolerieren, „erinnere an das Weltbild der rechtsradikalen Identitären Bewegung„, schreibt Leonie Feuerbach in der FAZ.
Darüber hinaus, so finde ich, engt ein eng geschnürtes Korsett kulturelle Grenzen ein und erlaubt Kritikern, sich auch über Schmuckvariationen oder andere Frisuren zu echauffieren. Letztendlich findet sich dann so ein Verein, der eigentlich das Klima retten wollte, in einer endlosen Debatte wieder, die niemanden hilft. Den Willen allerdings, solche Dinge zu berücksichtigen, spricht für die Ziele der Bewegung, weiß auch Soziologe und Kunsthistoriker Jens Kastner zu berichten: „Diese Ungerechtigkeit, alles an kulturellen Bräuchen und sozialen Errungenschaften genommen zu haben, ohne jenen, denen es zugestanden hätte, etwas zu geben, ist der Ursprung der Kritik an kultureller Aneignung.“
Ich wünsche mir eine Spur mehr Gelassenheit in dieser Diskussion und den Willen, sich mit den Dingen auch auseinanderzusetzen. Musikerinnen einfach auszuladen ist genauso sinnlos, wie sich im Affekt der Empörung über eine angebliche Zensur aufzuregen. Irgendwann büßt man Toleranz und Offenheit ein und tauscht sie gegen Regulierung und Ausgrenzung. Es gilt eine vermeintlich anstrengende Balance zu wahren und sich nicht in ein Extrem der Überregulierung oder Beliebigkeit zu flüchten.
Wizard of Goth – sanft, diplomatisch, optimistisch! Der perfekte Moderator. Außerdem großer “Depeche Mode”-Fan und überzeugter Pikes-Träger. Beschäftigt sich eigentlich mit allen Facetten der schwarzen Szene, mögen sie auch noch so absurd erscheinen. Er interessiert sich für allen Formen von Jugend- und Subkultur. Heiße Eisen sind seine Leidenschaft und als Ideen-Finder hat er immer neue Sachen im Kopf.