Looking for Europe – Neofolk und Hintergründe

Schon eine ganze Weile schiebe ich den Neofolk als neuen Artikel in meiner Reihe Subkultur! vor mir her. Das Thema ist zu kontrovers und grenzwertig um einfach einen Artikel ins blaue zu schreiben. Leider zeigen sich Online-Quellen auch nicht sonderlich gesprächig und verweisen meistens auf das Buch Looking for Europe von Andreas Diesel und Dieter Gerten. Grund genug das Buch einmal genauer anzuschauen um den bevorstehenden Artikel über das Genre auf gesunde Beine zu stellen.

Ende der 90er wurden die Stimmen lauter, die faschistoide Inhalte in den Musikstile Gothic, Dark Wave und Neofolk anprangerten. Gerade im Genre Neofolk, in dem es inhaltlich um Heidentum, Antikapitalismus, Nordische Mythologie, Eurozentrismus und Sozialdarwinismus geht, spielt man mit Elementen und Inhalten aus dem Soldatentum des Nazi-Regimes und umstrittenen Künstlern dieser Zeit. Kritiker gehen auf die Barrikaden und protestieren lautstark gegen die „Infiltration durch die Nazis“ , es kommt immer wieder zu Diskussionen im Hinblick auf das Wave und Gothic Treffen in Leipzig 1. Auf erschlagenden 536 Seiten widmen sich die beiden Autoren nun „umfassend und undogmatisch dem schwärzesten Kapitel des Musik-Undergrounds“ 2 und haben neben einem Lexikon auch eine gewaltige Gegendarstellung an die Kritiker verfasst.

Das Buch versucht den Neofolk so umfassend wie möglich darzustellen, obwohl es dabei nie den Anspruch erhebt vollständig zu sein. Grundsätzlich teilt sich das Buch dabei in 3 Teile. Im ersten Teil bemühen sich Diesel und Gerten um einen sanften Einstieg in das musikalische Genre Neofolk, beleuchten die Entstehung und Wurzeln und lassen Künstler und Vertreiber ihre Ansicht der Szene schildern. Die beiden Autoren arbeiten sich dabei akribisch durch Zitate, Pressemeldungen, Zeitschriften und andere Quellen und ergänzen die Lücken mit sinnvollen Zusammenfassungen.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit den wichtigsten Bands der Szene und wirft teilweise sehr ausführliche Blicke auf Current 93, Death in June, Sol Invictus, Fire + Ice, Blood Axis, Boyd Rice bis hin zu den Italienern von Kirlian Camera. Insgesamt werden mehr als 60 Bands aus aller Welt vorgestellt.

Bis dahin darf man das Buch als durchaus fundiertes Lexikon für das Genre ansehen, das zusammen mit der zusätzlich erhältlichen 4er CD einen guten Überblick über ein Musikgenre gibt. Im dritten Teil widmen sich die Autoren ausführlich der „Nazi-Problematik“, denn erst hier wird die Diskussion um die Verherrlichung und das vermeintliche enthüllen der Gräuel und Mechanismen des Nazi-Deutschlands im Rahmen des musikalischen Genre thematisiert und offene Fragen aus dem ersten Teil aufgegriffen.

Leider arbeiten die Autoren hier weniger gründlich und arbeiten hier allenfalls an einer wirklich guten Gegendarstellung einzelner Kritikpunkte oder Gegebenheiten, denn von den Kritikern kommen im Verhältnis zu den Fürsprechern nur einer verschwindend kleine Anzahl zu Wort. Das beleuchten beider Seiten und eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Seite der Kritiker findet nicht statt, man versucht lediglich alle möglichen Kritikpunkte mit Fakten oder eigenen Ansichten zu wiederlegen. Dabei verfallen Diesel und Gerten in eine Verteidigungshaltung und verhelfen nicht zu einem differenzierten Eindruck der Szene.  Immer wieder klopft man auf die Tatsache, nichts mit Neonazis zu tun zu haben und keine Plattform für Rechtsextremisten zu sein, gleichzeitig verstrickt man sich aber in Wortgewaltige und Seitenumfassende Texte die genau das Gegenteil zu vermitteln scheinen.

Es steht außer Frage, dass die Thematisierung des Nationalsozialismus und der Gebrauch entsprechender Symbolik im Rahmen von musikalischer Verarbeitung legitim ist, sofern die künstlerische Beschäftigung keine Bekehrung des Publikums zu entsprechenden Ideologien anstrebt oder an Gewaltaufrufe geknüpft ist: Beides kann für die in diesem Buch besprochenen Bands ausgeschlossen werden.3

Die Bands und Musiker verweigern sich also der Tatsache, das heute noch und auf der ganzen Welt die Hakenkreuzfahnen von Menschen geschwenkt werden die ihrer Hoffnung Ausdruck verleihen, dass Adolf Hitler wieder belebt werden sollte. Auch das „künstlerische“ Spielen mit Symbolen und Darstellungen der NS, SA oder SS wird in selbstgerechten Schilderungen ein musikalischer Background verliehen, den es eigentlich nicht verdient. Man gewinnt den Eindruck, das durch die Verwendung derartiger Symbole die öffentliche Aufmerksamkeit erregt werden soll, wohl wissend das es von einem nicht zu geringen Teil der Fangemeinde überhaupt nicht hinterfragt wird.

So trübt der letzte Teil den zunächst guten Eindruck des Buches, denn gerade dieses heikle Thema sollte entsprechend fundiert angegangen werden, so das für den einseitig informierten Leser nur ein Schlussfolgerung möglich erscheint: Die Neofolker haben irgendwie putzig einen an der Waffel, aber ihre Kritiker sind sträflich dumm. 4

Die angekündigte kritische Auseinandersetzung bleibt also aus, dennoch ist das Buch eines der umfangreichsten Werke über das so umstrittene Genre Neofolk. Die Texte sind teilweise ebenso so komplex, konfus und verwirrend wie die Künstler aus dessen Feder diese stammen, Diesel und Gertner tun sich sichtlich schwer das ganze sinnvoll zusammenzufassen und beweisen mit der Auswahl der Protagonisten im dritten Teil des Buchs kein glückliches Händchen.

Fazit: Umfangreiches Werk über das Genre Neofolk, als Meinungsbildner aber mit Vorsicht zu genießen.

Das 2005 erschienene und 2007 in die 2. Auflage gegangene Buch ist im Index-Verlag erschienen und für 24,95€ unter anderem bei Infrarot erhältlich.

Einzelnachweise

  1. Siehe auch die Broschüre Die Geister die ich rief von den Grufties gegen Rechts, Bremen[]
  2. Aus einer Presseinformation auf der Internetseite des Index-Verlages zum Buch Looking for Europe[]
  3. Looking for Europe, Index Verlag 2007, 2. Auflage, Seite 407[]
  4. Aus dem Artikel Im Schützengraben der dunklen Kulturfront auf Telepolis.de[]
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Jasper Morello
Jasper Morello (@guest_51665)
Vor 8 Jahre

…was würdest du denn als „Meinungsbildner“ vorschlagen? Vermutlich das Buch „ästhetische Mobilmachung“, oder liege ich da falsch?

Guldhan
Guldhan(@guldhan)
Vor 8 Jahre

Als ich vor Jahren im Hause meines Gastgebers frühmorgens von Langerweile heimgesucht wurde, las ich mich ein paar Kapitel in dieses …Machwerk ein. Und muss sagen, die »Ästhetische Mobilmachung« dient mehr zur persönlichen Belustigung, als zum wirklichen Faktencheck.
Man kann es gerne lesen, wenn man schon eine fundamentierte Meinung à la »Alles Nazis außer Vati« besitzt. Doch wenn man objektiven Sachverhalt erwartet, der einem zur eigenen Meinung verhilft, dann sollte man doch lieber innerhalb der Szene und der Alben suchen und nicht innerhalb dieses Papieres.

Jasper Morello
Jasper Morello (@guest_52077)
Vor 8 Jahre

Ein Richter der ein fundiertes Urteil fällen will muss sich zwangsweise mit beiden Seiten auseinandersetzen, in diesem Sinne gebe ich dir da durchaus recht. Da ich allerdings gerade noch mitten in der Auseinandersetzung mit dem Buch der Verteidiger stecke, werde ich mir hier nun nicht anmaßen ein Urteil zu fällen. Eine Tendenz ist allerdings immer zu erkennen, bei mir zugunsten der meisten Künstler. Die einzige Band die mir bisher indiskutabel erscheint sind Von Thronstahl.

Übrigens finde ich den Umgang mit dem Thema Neofolk auf dieser Seite erfreulich differenziert, vor allem im Vergleich mit einer nicht geringen Anzahl Artikel die ich bisher über das Thema gelesen habe.

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