Dokumentation: Auf Teufel komm raus (1991)

Wer jetzt die übliche Schmähschrift über einen misslungenen Versuch, die schwarze Szene zu erklären, erwartet, wird enttäuscht werden. Wer wieder einmal denkt, ich würde Klischees ausräumen, Vorurteile abbauen und über die etablierte Medienlandschaft herziehen, sollte an dieser Stelle den Artikel verlassen. Die Dokumentation, die Norbert Busé 1991 filmte, ist ein ernsthafter, feinfühliger und weitsichtiger Versuch, die Szene 1991 darzustellen und zu erklären. Auch wenn der ein oder andere bei Zitaten wie „Die Abschottung ist perfekt und erschwert den Ausstieg.“  erlernte Gegenargumente abfeuern möchte, sollte man kurz innehalten und sich fragen, wie viel Wahrheit in dem liegt, was die Dokumentation als Hintergrund darstellt. Dass heute alles viel oberflächlicher wirkt, wie in diesem Film, ist ein Fakt, der der aktuellen Berichterstattung geschuldet ist. Seit Jahren verkauft man Gothic als harmlose und feierwütige Partykultur der schwarz gekleideten Selbstdarstellung.

Dokumentarfilmer Busé ist studierter Pädagoge und Philosoph, arbeitete als Lehrer für Ethik und war als Medienreferent tätig. 1990 gewann er den deutschen Jugendvideopreis und arbeitete bis 1993 als Redakteur beim ZDF. Auch wenn seine Darstellungen und Schlussfolgerungen an manchen stellen überspitzt erscheinen, ist die Doku „Auf Teufel komm raus“ das bislang Beste, was ich in diesem Bereich gesehen habe. Das liegt auch an den Interviewpartnern und den vorgestellten Bands „Das Ich“ (Stefan Ackermann und Bruno Kramm) und „The Fair Sex“ (Myk Jung, Rascal und Blonder), die nicht nur den Szenegeschmack 1992 repräsentieren, sondern „Szene“ auch mit Inhalten füllen können. Vielleicht ist auch Vieles von dem, womit sich Szenemitglieder und Künstler auseinandersetzen, eine Wunschvorstellung, doch die deckt sich mit meiner persönlichen Wunschvorstellung nach dem „Magisch-Mystischen“. Ist das alles plakativ überzogener Blödsinn?

Fatima steht ihre Frau in einem Lackierbetrieb in Hamburg. Sie und ihr Freund Arne, der noch zur Schule geht, leben in einem überraschend geregelten Alltag. Aber gerade dieser Alltag, in dem alles glatt und makellos wie Autolack sein muss, macht es Fatima und Arne – wie sie sagen – nicht leicht, sich selbst zu finden. Die Anforderungen der Gesellschaft, wie Schule und Beruf, lassen den beiden kaum Raum für ihre besonderen Träume und Gefühle. Mit ihren heimlichen Fluchten in eine magisch-mystische Welt versuchen sie, die Monotonie des Alltags zu vergessen. Doch ihre tristen Visionen, die sie dabei entwickeln, sind nur schwer nachvollziehbar für ihre Umwelt.

Was 1992 galt, ist heute aktueller denn je. Heute sind es nicht nur Jugendliche, die auf der Suche nach Flucht vor den Anforderungen der Gesellschaft sind. Der Zufluchtsort der magisch-mystischen Interessierten ist die Gothic-Szene. Gerne auch mit der einhergehenden visuellen Provokation und der gelebten Andersartigkeit. Sicherlich gibt es das auch in vielen anderen Subkulturen und überhaupt braucht man für diese Flucht nicht unbedingt eine Szene. Die Gothic-Szene ist das Ergebnis eines Gemeinschaftssinns, ein Treffpunkt auf der Suche nach Gleichgesinnten, der den Austausch über die gleichen Interessen und Vorlieben zum Ziel hat. Die Dokumentation fasst einige interessante Phänomene der Szene auf und bündelt sich in bemerkenswerten Zitaten:

Auf Teufel komm raus - Screenshot 1Nicht selten romantisieren Grufties ihre Vorstellungen vom Tod. In faszinierenden Bildern und trauriger Musik schwelgen sie in ihren Stimmungen. Die Gefahr, dass sie in diesem magischen Sog der Gefühle steckenbleiben, ist groß.“ (9:42)

Selbstfindung im schwarz-weiß Denken? Jedenfalls ein spielender Umgang mit Bildern, die sehr schnell zu Klischees von Gut und Böse erstarren können. Denn das einfach gestrickte Weltbild verführt zu neuen starren Vorstellungen und kritische Zwischentöne werden in der Szene nicht gerne gehört.“  (11:46)

Gründe für die Provokationen sind oft nur mangelndes Selbstbewusstsein und der Wunsch, etwas Besonderes zu sein, aus der Masse herauszuragen.  Das Gott vorenthaltene Gute, das Böse also, muss nicht gleich der Hang zum Dämonischen sein sondern schlicht der Wunsch, Beachtung zu finden.“ (18:47)

Bei diesen Aussagen kann ich nur von meiner Ansicht sprechen, denn ein Problem sich in seinen Gefühlen zu verheddern, ist individuell und nicht unbedingt szenetypisch. Was jedoch typisch ist, ist die Suche nach gelebter Melancholie. Während man in anderen musikalisch orientieren Szene oftmals versucht, Freude und Energie auszudrücken und diese beispielsweise auf der Tanzfläche zu zeigen, ist die getanzte Melancholie szenetypisch. Sich der Traurigkeit bewusst hinzugeben, kann für das eigene positive Lebensgefühl sehr befreiend sein. Das gilt jedenfalls für mich.

Die kritischen Zwischentöne haben wir – und da spreche ich für eine breitere Allgemeinheit – inzwischen zu akzeptieren gelernt. Auch der Diskurs damit ist uns nicht fremd, dieser Blog ist das beste Beispiel. Es mag daran liegen, dass wir mit der Szene gealtert sind (ganz sicher sogar), doch mit dem Alter lernt man auch die Gelassenheit. Das muss nicht immer positiv sein, manchmal beneide ich jeden Jugendlichen, der seine gesamte Energie in etwas „Aussichtsloses“ zu stecken vermag.

Es geht um Abgrenzung und ein Teil der Szene ist sicherlich auch immer schon auf Anerkennung aus gewesen. Das gehört unweigerlich zur menschlichen Existenz. Schüchternheit, mangelndes Selbstbewusstsein oder Selbstzweifel finden sich meiner Erfahrung nach außerordentlich häufig in der Szene. Überdurchschnittlich häufig sind es „hässliche“ Menschen, die in der Szene einen Rückzugsort suchen und bisher auch immer gefunden haben. Eine neuzeitliche Gefahr ist die körperliche Uniformität, die mittlerweile auch in der Szene Einzug hält. Szenezeitschriften und Fetisch-Fotografen sei Dank. Doch das steht auf einem anderen Blatt.

Für Julia aus Essen hatte die Gruftie-Zeit auch ihre Schattenseiten. Hinter der scheinbar selbstbewussten Fassade verbarg sich oft auch eine große Unsicherheit. Im Laufe einer Gruftie-Karriere muss man viel Geld investieren, um mit den alten Grufties mithalten zu können. Alt-Grufties, die bereits seit 5 oder 6 Jahren in der Szene leben, bestimmen, was momentan  an Musik, Kleidung und Meinung angesagt ist. Wer in die Szene hineinkommt, muss sich einer strengen Verhaltensnorm unterwerfen. Die Abschottung ist perfekt und erschwert den Ausstieg. Individualität ist nicht mehr gefragt und wird von einem enormen Gruppenzwang in Frage gestellt. Ursprung der Gruftie-Bewegung war der Punk aus England, aus dem sich die New Wave Generation entwickelt hat, in dem der ganze Mystik-Bereich nur Mode und Styling war. Daraus ist eine unpolitische Gruppe geworden, von außen ist schwer zu erkennen, dass das Interesse  für die dunkle Seite des Lebens nicht in Teufelsanbetung und Satanskult endet. Nur wenige haben sich mit okkulten Riten auseinandergesetzt.“  (16:54)

Auf Teufel komm raus - Screenshot 2Julia fällt zugegebenermaßen etwas aus dem eloquenten Rahmen, denn der „Ausstieg“ ist dann doch nicht so problematisch, wie er sich ihr darstellte. Es ist viel mehr – wie sie auch sagt – die Gewohnheit und das liebgewonnen Vertraute, das den Ausstieg erschwert. Darüber hinaus lässt sich eine Faszination für ein okkultes, magisches oder mystisches Ambiente auch nicht einfach „austreiben“, das zeigen mir auch oftmals die Geschichten der Wiedereinsteiger, die zwar nach ihrer Jugend die Szene rein äußerlich verließen, die Interessen und Vorlieben aber beibehalten haben.

Für die Gruppe der Schwarzen ist der Teufel alles andere als ein leibhaftiger Bundesgenosse, er ist Symbol einer gemeinsamen Grundhaltung. Ein Ausdrucksmittel, genau wie einst Jeans und lange Haare.  Während Solarien Hochkonjunktur haben und knackige Bräune als Inbegriff für Erfolg, Dynamik und Leistungsfähigkeit gilt, tragen sie trotzig ihre weiß geschminkte Haut zur Schau.“ Ob der Teufel als gemeinsames Symbol herhalten kann, halte ich für fraglich, das ist dann doch eher anderen Szene vorbehalten. Doch den Kontrast zwischen knackiger Bräune und bleich geschminkten Gesichtern finde ich sehr gelungen. Interessanterweise war das im Mittelalter genau andersherum. Da war die Bleiche ein Zeichen für den Stand, denn das Fußvolk, das auf dem Feld schuften musste, trug die „knackige Bräune“ unfreiwillig.

Aber das Reich der dunklen Märchen führt auch zu den Sehnsüchten junger Menschen. In einer Welt, in der alles erklärbar erscheint, ist wenig Raum für eine tiefere Wirklichkeit. Auf der Suche zum eigenen Selbst ohne Maskerade. Doch was ist das Selbst?

Eine Sehnsucht, die bleibt. Vielleicht ein Grund, warum die Subkultur „Gothic“ immer noch ein Phänomen ist, dem sich selbst Erwachsene nicht entziehen können. In einer säkularisierten Welt, in der Religionen immer weniger Halt versprechen, sucht man sich eigene Welten, die einem die Richtung geben, die man sucht. Szenen, in denen man individuell sein kann, ohne sich erklären zu müssen, sondern in denen man einfach gemeinsam (er)lebt. Die Frage nach dem Selbst beantwortet keine Szene, keine Band und keine Dokumentation. Das Drumherum ist nur die innere Atmosphäre, in der man sich wohlfühlt, um sich selbst zu finden.

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Ian von Nierenstein
Ian von Nierenstein (@guest_48512)
Vor 11 Jahre

Schöne Bilder, schöne Menschen, stimmungsvolle Hintergrundmusik. Interessant, da wir ja gerade bereits über „Das Ich“ gesprochen hatten, das eine gute Überleitung zu diesem Artikel war. Man sieht, wie modetechnisch prägend damals The Cure waren, wenn ich mir die Hamburger Grufties so betrachte. „The Fair Sex“, tolle Musik, gefällt mir gut.

Mone vom Rabenhorst
Vor 11 Jahre

Ich kannte das Video noch nicht, fand ich sehr schön zu sehen. So viele schöne Leute darin! Grinsen mußte (nicht nur) ich bei „Altgrufties, die schon 5 oder 6 Jahre dabei sind“…. :-)

Der Sänger von The Fair Sex sieht auch immer noch so aus… halt nur etwas gealtert. Der tanzte vor ca. 2 Monaten neben mir auf Skinny Puppy :-)

Ian von Nierenstein
Ian von Nierenstein (@guest_48514)
Vor 11 Jahre

Aus heutiger Sicht kann man schon von Altgrufties sprechen :D

Death Disco
Death Disco (@guest_48521)
Vor 10 Jahre

Nur dass ihn die Kids heute als Emo verspotten.

Ist bei denen nicht mal der Drummer verstorben? Auf der Bühne weggekippt oder so… Demented Forms ist ja immer noch mein Favorit. House of Unkinds war Vorglühen.

Schwer zu belegen, wann man von “Szene” sprechen konnte, vor 1984/85 war es eher eine wilde Ansammlung von New Wavern und Punks, jedenfalls in Deutschland.

So gesehen war es auch Ende der 80s noch keine Szene, sondern ein Konglomerat aus „Indies“ unterschiedlicher Couleur. Da hüpften die Waver sogar zu „Our House“ von Madness auf der Tanzfläche umher. Und das war ’ne Ska-Band.

Die Entwicklung des Gruftitums war mehr ein fließender Prozess, der dann startete, als die entsprechenden Bands bekannt wurden und auch hierzulande tourten (meist in kleinen Clubs). Die ersten Gruftis würde ich sogar in der Zeit der NDW verorten, als auch sowas wie Malaria! oder Xmal Deutschland populärer wurde. Leute wie Gudrun Gut entsprachen ja damals schon dem „Idealbild“.

Mone vom Rabenhorst
Vor 10 Jahre

Nun ja, einen „Startschuss“ „der Szene“ habe ich auch nicht mitbekommen. Aber mit den New Wavern und den Punks triffts irgendwie. Die Entwicklung Richtung Gruftie (also immer schwärzer und bleicher) ging aber dann relativ rasant von statten, find ich.

Robert, Deine Meinung zu Myk Jung teile ich zu 100 %.

Wie schön, daß er sogar noch Haare hat! Unglaublich aber wahr! :-)

Ian von Nierenstein
Ian von Nierenstein (@guest_48524)
Vor 10 Jahre

Meint ihr, die Haare sind überhaupt noch echt? :D Zumindest sieht er ja heute noch haargenauso aus wie früher, wo sind die Falten, die anderen „gewöhnlichen“ Menschen normalerweise im Lauf der Jahrzehnte sprießen? :)
Also wie man Myk Jung als Emo bezeichnen könnte, kann ich absolut gar nicht nachvollziehen. Der repräsentiert einfach diese optische Coolness, die ich mit „Grufties“ generell verbinde.

Mone vom Rabenhorst
Vor 10 Jahre

Ian, die Falten sind da!

Die Haare sind auch echt. Für ne Perücke sind die nämlich ZU strähnig und ZU dünn.

Aber ich zupf mal ganz aus Versehen dran, wenn ich ihn demnächst wieder mal sehe. ;-)

Schau mal… ist von September :-).

Ian von Nierenstein
Ian von Nierenstein (@guest_48527)
Vor 10 Jahre

Hui :)

Mone vom Rabenhorst
Vor 10 Jahre

Ääääh, bevor’s jetzt zu Verwechslungen kommt!

Ich bin das NICHT mit auf dem Foto!!!!!

Death Disco
Death Disco (@guest_48530)
Vor 10 Jahre

Jetzt versteh ich auch Ians Umschreibung als „schwarze Brigitte“. Die Titelseite könnte glatt zu Burda Moden gehören…

Ian von Nierenstein
Ian von Nierenstein (@guest_48531)
Vor 10 Jahre

Ja, das meine ich nämlich, Death Disco. Es gibt aber noch viel grässlichere Hefte, z.B. das „Dark Spy“… aber der Vergleich Lisa, Brigitte, Bild der Frau etc. passt doch ganz gut zu der pathetischen Gestaltung vieler Cover. Wo ist der Bauhaus-Stil, oder Art Déco, wo der russische Konstruktivismus, der in den 80ern noch im Design üblich war und optisch einflussreich auch auf die New Wave?

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